Vom Berner Oberland ins Wallis führt ein Jahrhunderte alter Saumpfad über den Lötschenpass, der einst Bern mit Rom verband. Als Tüpfchen auf dem i dieser schönen Alpenkammüberschreitung erklimme ich das neckische Hockenhorn. Ein Traumtag auf dem Lötschberg im kalten Biswind.
Das Gasteretal wird von Kandersteg aus mit einem Wandertaxi erschlossen. Es dauert, bis der Fahrer die Reservationen gecheckt und alle bezahlt haben. Digitalisierung wäre hier ein lohnendes Projekt :-). However, der Service ist super und spart viel Anmarschzeit. Nach einer kurvigen Fahrt durch die Schlucht mit ihren engen Tunneln erreicht das Büsli das prachtvolle Tal. Über den Kies holpert es weiter bis zum Berghotel Steinbock, wo die Lötschenpasswanderer aussteigen. Jene auf dem Weg zum Kanderfirn können noch fünf Minuten sitzen bleiben.
Ich kehre kurz im Steinbock ein, weil ich mehr über dieses abgelegene Tal zwischen Bern und Wallis wissen will. „Gaschtere“ scheint im Kandersteger Dialekt „übernachten“ zu heissen. Eine Infotafel erklärt mir, dass die Reisenden nach Italien und die von dort kommenden Gewürzhändler hier seit Ewigkeiten bewirtet wurden. Als Dank erhielten die Talbewohner von der Obrigkeit einst eine Bibel, die seither beim Talältesten aufbewahrt wird und aus der noch heute am letzten Sonntag im August vorgelesen wird – also übermorgen.
Das lange Kanderfirn am Talende gab es im Mittelalter übrigens auch noch nicht – über den Tschingelpass konnte schneefrei das Hintere Lauterbrunnen-Tal erreicht werden. Tempi passati – der Klimawandel wird sie wohl zurückbringen.
Nun laufe ich endlich los – es ist schon halb Elf – und überquere die schlanke Hängebrücke, die mich an den Fuss der ersten, steilen Talstufe bringt, die auf dem Weg zum Pass überwunden werden muss. Viel Wasser plätschert stufenweise die Felsen hinunter. Leider lässt sich das mit der Kamera nicht gut einfangen.
Weit über mir erspähe ich den Gipfel des Hockenhorns. „Langsam beginnen, Edwin, langsam! Du hast ein Tagesprogramm mit 2000Hm vor Dir“, warnt meine Vernunft. So gedacht, so gemacht. Bald schnurrt die Maschine bei tiefem Puls leise und rund. Herrlich, wenn das Steigen Ende August jeweils keinerlei Mühe mehr macht!
Nach der ersten Talstufe erfolgt ein kurzes, grünes Flachstück, dass mich an den Fuss einer Steilwand bringt, die rechts davon über steile Wiesen umgangen wird. Es gibt offenbar auch einen unmarkierten Pfad in der Wand, aber den hebe ich mir für ein nächstes Mal auf.
Nach dem zweiten Steilstück erreiche ich den Rand der Resten des Lötschengletschers, der sich hier oben unter der Ostwand des Balmhorns ausbreitet.
Zunächst behindert Nebel die Sicht, aber bald klärt es auf und ich bestaune das Eis, das sich weitreichend unter einer dichten Schuttschicht versteckt. Für Kinder muss diese Passage ein echtes Abenteuer sein. (Fast) keine Spalten, aber doch Eis, einfach zu passieren.
Der Pfad zielt nun auf die hohe Seitenmoräne und später auf eine nächste Felsbarriere zu. Diese wird auf einem kunstvoll herausgehauenen Pfad, mit ein paar Stahlseilen gesichert, überwunden. Alles harmlos, auch wenn der Wanderführer diese Seite des Passwegs mit T4 bewertet. Das ist meines Erachtens übertrieben. Im Gegenteil, das bisschen „Prickeln“ macht grossen Spass und fördert die Freude an anspruchsvollen Bergwanderungen.
Nach dieser dritten Rampe erreiche ich das flache Gelände vor dem Passübergang und sehe schon bald die moderne und freundliche Lötschenpasshütte, die genau auf der Wasserscheide steht.
Erstes Fazit: Ein sehr unterhaltsamer Aufstieg – und jetzt werde ich auch mit Weitsicht und Sonne belohnt: Das Wallis ist weitgehend von den Wolken verschont, die die heftige Bise seit Tagen an die Nordflanke der vorderen Alpenkette drückt. Die Sicht auf Mischabel, Weisshorn und Konsorten ist fast komplett frei!
Nach einem grossen Glas Schorle und einem frischen Mandelgipfel (auf die Kochkünste des Hüttenteams komme ich später zurück!) visiere ich den flachen Gratrücken des Lötschbergs an, über den ich weglos zum Hockenhorn vorstossen kann. Steinmännli weisen den Weg, später Wegspuren, dann sogar blau-weiss-blaue Markierungen. Aber die braucht es eigentlich alle nicht. Einfach dem Grat folgen, bis die Spitzen des kleinen und grossen Hockenhorns am Horizont auftauchen.
Die nördlich Umgehung des kleines Hockenhorns erfordert etwas Vorsicht, da sich hier ein mittelsteiler Mini-Gletscher ausbreitet, der heute gut passierbar ist (sichere Spur). Er kann seit einigen Jahren aufgrund der Schmelze auch untendurch über ein Schuttband umgangen werden, das kostet nicht mehr als 20 Höhenmeter. Davor war das schon eine heisse Nummer…
Über Schotter erreiche ich schliesslich die Nordflanke des Hockenhorns, über der etliche Spuren zum Gipfel führen. Die Hände braucht es nur zuoberst. Ich deponiere die Stöcke erst rund 100 Meter unterhalb des Gipfels. Der felsige Abschluss macht das Ganze sogar richtig alpin, auch der schier endlose Tiefblick ins Gasteretal beeindruckt mich tief.
Auf dem Gipfel bin ich ganz alleine – und im Windschatten der eiskalten Bise. Doldenhorn, Blüemlisalp und die Berner Granden sind alle in den Wolken, das Kanderfirn sehe ich nur knapp, den Petersgrat gar nicht. Dafür die Lötschenlücke, wo ich im April den Gletscherteil der W-O-Transversale per Tourenski vorgeholt habe. Und das ach so schöne Bietschhorn auf der anderen Talseite. Und die hohen Walliser – alle schön artig aufgereiht. Einfach grossartig!
Ich sitze lange und geniesse, auch gearbeitet wird noch etwas – Homeoffice light – was für ein Privileg! Zutiefst befriedigt nehme ich viel später den Abstieg über die gleiche Route unter die Füsse. Immer wieder zurückschauend – auch auf die Wolkenspiele der Bise, die sich inzwischen so kalt anfühlt, dass ich meinen Anorak anziehen muss.
Schon vor der Rückkehr zur Hütte knurrt mein Magen. Also muss eine Rösti her – mit Käse, Speck und allem. Meine kulinarischen Erwartungen in SAC-Hütten sind meistens tief, zu oft habe ich Büchsenware gekaut. Wenn der Appetit gross genug ist, macht mir das (fast) nichts. Ganz anders heute. Der Teller, der bald vor mir steht, ist schön angerichtet. Die Rösti aus frischen Kartoffeln gebacken und perfekt knusprig, der Käse darüber fliesst wunderbar. Ich bin begeistert und hätte die Hüttenwartin am liebsten umarmt! Überhaupt macht mir diese Hütte einen hervorragenden Eindruck. Hier übernachte ich mit Familie oder Freunden einmal freiwillig!
Doch jetzt muss ich runter, es ist bald halb Fünf. Die letzte Gondel von der Lauchernalp ins Lötschental fährt um 18.25, und ich will den kleinen Umweg durch den Stierestutz hinunter zur Kummenalp noch anhängen, um von dort über den Lötschentaler Höhenweg zur Luftseilbahn zu gelangen.
Das führt zunächst an fotogene Seelein vorbei, dann durch ein steiles Couloir hinunter zu grünen Weiden und schliesslich durch einen wohlduftenden Arvenwald. Viel Abwechslung bis zum Schluss! Noch ein paar schöne Fotos – aber jetzt höre ich auf, sonst wird dieser Blogbeitrag endlos.
Tourdatum: 27. August 2021
Interaktiver Kartenabschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
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Notabene:
ÖV: Der Platz im Wanderbus ins Gasteretal muss reserviert werden: Tel. +41 33 671 11 72.
Schwierigkeitsgrad:
Gasteretal-Lötschenpass-Lauchernalp: T3
Lötschenpass-Hockenhorn: T4
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