Die heutige, letzte Etappe des ersten Teilstücks meiner Ost-West-Transversale beginnt in La Punt Chamues-ch. Hier mündet das auf den ersten Blick enge, unattraktive Val Chamuera ins weite Inntal. Ich erwarte wenig und bekomme viel. Die Wanderung durch die zunehmend breiter werdende Talschaft erweist sich als wunderschön und abwechslungsreich. Später punktet das Val Prüna mit dem Piz Languard und seinen Murmeltieren. Tageshöchstpunkt ist die steinige Fuorcla Muragl. Aber das Prunkstück der Tour nach Muottas Muragl kommt erst danach: Der Lei Muragl, ein Kleinod, das seinesgleichen sucht.
Nach einem reichhaltigen Frühstück, das ich dank einer gutmütigen Engadiner Servicefrau schon vor der „offiziellen“ Buffeteröffnung einnehmen darf, fährt mich die reizende polnische Receptionistin vom Castell in Zuoz nach La Punt Chamues-ch zum Eingang des Val Chamuera. Ich schultere meinen schweren Rucksack, danke für die Gastfreundschaft und verabschiede mich. Eigentlich hätte ich nur den halben Inhalt meines Rucksacks für diese einfache Tour gebraucht, aber ich will nachher direkt nach Hause fahren können. Mein Rücken hat sich diese Woche längst an die Last gewöhnt.
Ein breites Kiessträsschen führt ins Tal, nur leicht ansteigend. „Etwas langweilig nach den Erlebnissen der Vortage“, frotzle ich. Es ist frisch, ich spüre Feuchtigkeit in der Luft, aber der Himmel ist nach der durchregneten Nacht knallblau. Nach 14 Uhr soll es wieder regnen, meinte Bucheli gestern Abend. So nehme ich die Stöcke vom Rucksack und erhöhe das Tempo. Die ersten Kilometer sind wirklich kein Brüller, aber bald breitet sich ein Strahlen über mein Gesicht aus: Es wird schön, und wie! Das Tal wird breiter, der Fluss sprudelt friedlich in seinem steinigen Bett, das trocknende Nadelholz riecht fein.
Nach einer Südostdrehung wird die romantische Alp Serlas sichtbar. Dort steht ein riesiges Gebäude, die Fensterläden zugenagelt. Schade, das wäre doch ein perfektes Gasthaus, das leicht mit Pferdekutschen von La Punt aus erreicht werden könnte? Ich denke über ein Geschäftsmodell nach und nehme mir vor, mich einmal nach der Geschichte dieses Hauses zu erkundigen.
Dann zweige ich ab, mein Weg führt nun hinauf ins Nebental, das Val Prüna. Der Pfad wird etwas schmaler und steiler, ist aber immer noch weit entfernt von jeglicher Anstrengung. Es bleibt viel Musse, um das prächtige Val Chamuera bis zu seinem begipfelten Abschluss entlang der italienischen Grenze zu bewundern. Dann richtet sich mein Blick nach vorne, zwischen den Legföhren taucht die noch verschneite Spitze des Piz Languards auf. Grossartig, ich hatte keine Ahnung, dass dieser Wanderberg eine so mächtige Nordseite hat! Ich halte immer wieder an, um ein noch besseres Foto zu machen. So ist innert Kürze die Alp Prüna erreicht, im Moment noch die alleinige Heimat von Dutzenden, wenn nicht Hunderten Murmeltieren. Diese regen sich alle fürchterlich über mein Kommen auf. Ich hätte wohl warten müssen, bis die noch schrecklicheren Kühe später in der Saison hier hoch kommen!
Nach einer Pause am Bach und einer auf Deeskalierung zielende Rufdiskussion mit den nervösen Nagern, nehme ich den Aufstieg zur Fuorcla Muragl unter die Füsse. Der Pfad führt zunächst rund 300 Höhenmeter richtig steil über den Grashang hoch, dann legt sich das Gelände wieder etwas. Durch Schutt surfend und über Blöcke steigend erreiche ich wenig später den 2891m hohen Pass.
Der Blick ins Oberengadin ist wunderbar, wird aber später im Abstieg immer schöner, denn noch sind die grossen Seen, die das Oberengadin so einzigartig machen, nicht zu sehen. Der Pfad führt hinunter zum Lei Muragl, der von oben etwas unscheinbar, aber aus der Nähe zunehmend reizvoll aussieht. Seine Muldenlage bewirkt nämlich, dass er vom bergseitigen Ufer wie ein Infinity Pool wirkt. Das sich im klaren Wasser spiegelnde Panorama ist umwerfend. Was für ein Kleinod! Leider ist die Kamera meines Smartphones nicht wirklich geeignet, das Erlebte richtig festzuhalten. Come and see!
Mit dem beflügelnden Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben, mache ich mich an den kurzen Abstieg zur Bergstation Muottas Muragl. Mit der Ruhe ist es jetzt vorbei. War ich am Seelein noch kurz alleine, kommen mir jetzt Dutzende Wanderer entgegen, die den Lei Muragl als Tagesziel gewählt haben.
Punkt Zwölf Uhr kehre ich auf der gemütlichen Alp Muottas ein, wo eine liebe Freundin beim Älpler Christian ihr Liebesglück gefunden hat. Sie serviert mir eine Alpjause mit einer warmen Siedwurst, das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Auch das Palü-Bier schmeckt. Beseelt von fünf fantastischen Tagen zwischen Müstair und Pontresina besteige ich viel später die Zahnradbahn und mache mich auf die Heimreise nach Zollikon.
Tourdatum: 29. Juni 2018
Richtig schön, lieber Edwin, danke fürs Dokumentieren…
Fantastische Aufnahme, lebende Beschreibung der Tour. Einfach lesenswert! Danke.
Sehr schön beschriebene Wanderung. Ich habe die Tour in anderer Richtung vor einigen Jahren gemacht. Direkt hinter der Fuorcla Muragl konnten wir während mehrerer Stunden aus nächste Nähe eine riesige Steinbock Kolonie beobachten. Das Val Prüna und das Val Chamuera waren sehr einsam und wir waren praktisch alleine. Den langen Abstieg nach Chamues-CH scheint für viele nicht attraktiv zu sein.
das werde ich sicherlich „nachwandern“! So wunderbar beschrieben und diese herrlichen fotos; einmal mehr ein grosses „danke“
Vielen Dank für den Besuch und den tollen Bericht, Edwin!
DEN See wer ich auch besuchen. Danke für den Tip.
Schreckliche Kühe?! Meinst Du schreckhafte Kühe? Ich kann mir nicht vorstellen, was gemeint ist… herzige erschreckte Murmeli…
Die schrecklichen Kühe vertrampeln die Höhlen der Murmeli…