Hoch über Müstair trohnt der Piz Chavalatsch, der östlichste Punkt und Gipfel der Schweiz. Er gleicht einem Vulkan und ist schon vom Ofenpass aus klar erkennbar. Von ihm aus beginnt eine abwechslungsreiche Grat- und Gipfeltour, die für Alpinwanderer an Genuss kaum zu übertreffen ist. Mit etwas Kondition winkt am Schluss das Stilfserjoch (2758m), über dessen Passstrasse wir uns bequem wieder nach Müstair hinunterfahren lassen. Ein eindrücklicher Tag auf der Ostgrenze der Schweiz.
Heute ist der erste Tag meiner Ost-West-Transversale. Ich bin etwas nervös, weil die Bise noch dunkle Wolken an die Gipfel drückt, und ich das Wandergebiet im Val Müstair überhaupt noch nicht kenne. Nicht einmal auf hikr.org, meine ergiebigste Quelle, ist die geplante Route vollständig beschrieben. Remo Oswald wartet um 7.00 bei einem Espresso an der Bar des familiengeführten Hotels Liun (Löwen) in Müstair, wo wir übernachtet haben. Der freundliche Kerl fährt uns mit seinem Alpentaxi über einen Forstweg zu Punkt 1871 hoch, wo unser Tageswerk beginnt.
Zügig steigen wir über die zunächst noch bewaldeten Hänge hoch. Mir fällt auf, dass die Alpenrosen mit jeden Hundert Metern Höhengewinn frischer aussehen. Nach der Hälfte des Aufstiegs ist kein Weg mehr zu sehen, aber die Markierungen sind deutlich. Über das Gras steigt es sich überall leicht. Nur das Wetter macht mir Sorgen. Als wir die Scharte erreichen, hüllt sich der Gipfel in Wolken, und die Bise bläst uns Schneegeriesel um die Ohren. Not really amusing.
Knapp unterhalb des Piz Chavalatsch haben die Südtiroler im 1. Weltkrieg eine Steinhütte erstellt. Sie wird heute noch als Wetterstation mit Webcam genutzt. Zu unserem Glück ist ein Schutzraum offen, in dem wir uns aufwärmen. Ich seufze leise: „Jetzt stehst Du endlich einmal auf dem östlichsten Gipfel der Schweiz – und Du hast nichts davon!“ Doch Minuten später ist der Spuk vorbei, er weicht dem grossen Kino: Der Wind reisst die Wolken vom Berg und präsentiert uns einen prachtvollen Ausblick auf das Val Müstair, das Vintschgau und die umliegende Berge! Nur der mächtige Ortler zeigt uns erst seine vergletscherte untere Hälfte – wir lassen ihm Zeit bis zum Abend, um sich zu enthüllen.
Nun beginnt die Gratwanderung auf der Ostgrenze der Schweiz. Mit der besseren Sicht kommt bald Euphorie auf, die immer gut rot/weiss markierte Route bietet Alpinwandern vom Feinsten. Die Rundsicht ist fantastisch, Wolkenspiele und Regenzellen (die uns aber nicht mehr treffen) bieten zusätzlich Augenreize. Mal ist der Rücken gutmütig grasig, mal plattig, mal steinig. Ausgesetzt ist er nie wirklich. Ein echter Genuss. Die kräftige Bise ignorieren wir, unsere Jacken halten sie gut ab. Nach zwei Stunden Auf und Ab erreichen wir den markanten Piz Minschun. Nun dominiert auch die Sonne und wir nehmen unser Picknick ein.
Am Fallaschjoch diskutieren wir kurz, ob wir zur Furkelhütte absteigen wollen oder weitergehen sollen. Die höchsten Gipfel des Tages kommen noch, ihre Nordseiten wirken noch etwas winterlich, trotz Pickel und Steigeisen am Rucksack muss eine eventuelle Umkehr eingeplant werden. Und wir haben schon über 1300Hm in den Beinen, mindestens 500 folgen noch. Doch Arno sagt „JA!“ und so steigen wir in den steilen, felsigen Grat des Fallaschkopfes (Cima di Valezza) ein.
Im oberen Teil des markanten Gipfels muss in die felsige Flanke ausgewichen werden. Hier sind Drahtseile montiert, die es auch braucht. Die Schneeresten lassen sich gut umgehen, aber viel früher in der Saison hätten wir hier nicht sein müssen. Hoch geht es bedeutend einfacher als runter. Trotzdem prüfe ich laufend, ob wir zur Not wieder sicher umkehren könnten.
Vom Fallaschkopf müssen nur wenige Meter abgestiegen werden zur Scharte des Piz Costainas (Furkelspitze, 3003m). Arno erreicht den höchsten Punkt des Tages mit Schuttspulen durch die Flanke, ich mit leichter Kletterei über den Felsgrat. Jetzt sehen wir erstmals das Stilfserjoch. Es ist noch weiter weg, als wir gedacht haben, und auch die Gipfelchen dazwischen sehen noch nahrhaft aus! Doch ab jetzt ist immer ein Pfad vorhanden, Schwierigkeiten gibt es keine mehr. Der ausgesetzte, steile Abstieg in das folgende Joch wird dadurch harmlos. Auf dem Gross Tartscherkopf ist es dann endlich soweit: Der Ortler hebt seinen Wolkenhut und zeigt sich in seiner ungeheuren Mächtigkeit. Was für ein Riesending!
Im stetigen und kräftezehrenden Auf und Ab – um den Klein Tartscherkopf und über die Korspitze – erreichen wir schliesslich das Dreispracheneck. Es ist 17.00 Uhr geworden, erstmals sehen wir wieder Menschen. Wir kehren in das „Garibaldi“ ein, ein Wahrzeichen des (kriegs-)geschichtsträchtigen Stilfserjochs (hier mehr dazu), und gönnen uns das verdiente Bier.
Dann rufen wir Remo an, der uns eine halbe Stunde später auf dem scheusslich verbauten Pass abholt und zum hübschen Liun zurückfährt. Wir freuen uns auf die Dusche, das schöne Zimmer und den feinen Znacht. Wir schliessen den Tag mit einem Abendspaziergang durch Müstair und zum namensgebenden alten Kloster müde aber zufrieden ab.
Tourdatum: 25. Juni 2018
Hallo Edwin,
was für eine traumhafte Tour, tolle Eindrücke – ich bin gerade im GEiste mitgewandert!