Die Alpinsaison naht und damit das Bedürfnis, einmal kräftig Höhenmeter zu trainieren, um fit für längere Touren zu werden. Das Glarnerland bietet dafür zahlreiche Optionen. Die Erklimmung des Wiggis, direkt vom Ziger Schlitz über die Südflanke, ist eine lohnende Variante. Ein schattiges Waldstück zum Aufwärmen, die Durchschreitung einer lieblichen Alp mit grossem Glärnisch-Kino und ein knackiger Planggenaufstieg zum langgezogenen Gipfelgrat sind die Ingredienzen zu diesem grandiosen Aussichtspunkt. Alles wunderbar – nur unterschätze ich die lauernden Gefahren dieser Jahreszeit sträflich und erreiche den Gipfel als Gefangener.
Ich lasse mein Auto bei der Bushaltestelle Staldengarten stehen, kurz oberhalb von Riedern, und folge den rot-weiss-roten Wegweisern, die zu einem grasüberwachsenen Waldpfad am Fuss des mächtigen Wiggis führen. Der Weg ist noch voller Spuren des Winters, Äste und kaputte Tritte zeugen davon. Es ist steil, aber durch den gleichmässigen Steigwinkel kommt die Laufmaschine rasch auf eine gute Betriebstemperatur, ohne Herz und Lungen übermässig zu belasten.
Bald unterschreite ich den riesigen Betonstollen, durch den das umgeleitete Wasser vom Klöntalersee ins Kraftwerk nach Netstal hinunterstürzt. Kunstvoll in den Fels gehauen ist die Bergstation der Werkspendelbahn, die ich passiere. Dann wird es ruhig, nur die Vögel pfeiffen und die Höhenmeter schwinden stetig. Zwischendurch erhasche ich einen Blick auf die Talebene oder staune über die gewaltigen Felstürme des Bergmassivs über mir.
Dann lichtet sich der Wald, gut 1000Hm über dem Tal erreiche ich die untersten Ausläufer der Auerenalp. Ein paar Hütten warten auf die Sömmerung der Alp, noch können die Enziane unbehelligt ihre Köpfchen zur Sonne strecken. Das Gelände flacht hier angenehm ab, sodass sich der Blick auf die spektakulären Nordwände des Glärnisch richten kann. Der sieht mit seinen (noch) vielen Schneefeldern wie ein Stück frische Schwarzwäldertorte aus. Darunter glänzt der blaugrüne Klöntalersee. Grosses Kino!
Auf der oberen Auenalp flüchtet ein grosses Rudel Gemsen vor mir. „Vor was habt ihr eigentlich Angst?“, denke ich. Ich zweige nun auf einen schwach markierten, blau-weiss-blau Pfad in Richtung Wiggis ab, hier beginnt der alpine Teil der Tour. Wenig später drehe ich in eine breite Rinne ein, das Obere Bützi genannt. Diese führt über steile Planggen zu einer Felswand hinauf, rechts davon ist das einzig bewanderbare Tor zum Wiggisgrat. Das Tälchen ist noch gut hälftig mit Schnee bedeckt, was mich etwas überrascht, aber fälschlicherweise nicht weiter beunruhigt. Ich schnalle dennoch zur Sicherheit die Halbsteigeisen an und nehme die nahrhaften 250 Hm unter die Füsse.
Der Pfad verschwindet bald unter das Schneefeld und so steige ich Direttissima, halb im Schnee, halb im Gras, die immer steiler werdende Flanke zum abschliessenden Felsband hoch. Ich freue mich über den Saft in meinen Beinen, noch keine Spur von Müdigkeit! Oben angekommen ist der Puls dennoch hoch. Ich staune über die eindrücklich überhängenden Felswand und erblicke dann die vierköpfige Jungmannschaft einer Steinbockfamilie. Scharfe Pfiffe, sie springen weg. Schade. Ich mache ein paar Fotos von ihnen, bis ich plötzlich Geräusche höre. „Was ist das?“ Schon fallen grosse Schneebrocken die Felsen hinunter und stürzen sich über die Planggen ins Tal. Und nicht nur das – sie reissen Steine mit, die sich mit einem dumpfen Schlag ins Schneefeld bohren oder mit hoher Geschwindigkeit über das Gras hinunter kullern. Mein Magen zieht sich zusammen. Erst jetzt erkenne ich, dass das Schneefeld unter mir übersät ist mit Steinen und Schneebrocken. Das ist kein Restschnee sondern ein Lawinenfeld! „Was bist Du für ein Idiot“, fluche ich. Mein Rückweg ist abgeschnitten, da kann ich unmöglich wieder runter. Je höher die Temperatur desto gefährlicher, erst in der Nacht wird sich das beruhigen. Es wird mir klar, was ich für ein unverschämtes Glück gehabt habe.
Nachdenklich steige ich durch das Tor aus der Rinne und ziehe über harmlose Schneefelder weiter zum Gipfelgrat. Hier ist es nicht mehr heikel, trotzdem kann ich mich nicht richtig über die wunderbare Aussicht freuen, sondern denke über meine Optionen nach. Ob der ausgesetzte Übergang zur Rautispitze vielleicht doch schon begehbar ist? Der Umweg eines Abstiegs über den Obersee würde mir nichts ausmachen. Aber „No way“, auf dem Gipfel angekommen erkenne ich die riesigen Wächten, die noch zwischen dem Zwillingspaar hängen. Trotzdem versuchen. Ich streiche die Gipfelpause und steige zur markanten Höchnase hinunter, von wo aus der ausgesetzte Pfad zur Rautispitze quert. Kein Durchkommen, ich bin gefangen.
Ich realisiere, dass ich etwas tun muss, was mir wahrlich schwerfällt: eingestehen, dass ich Hilfe brauche. Ich seufze und wähle die Nummer der Heli Linth, schliesslich sehe ich ja direkt auf den 1800m tiefer gelegenen Flugplatz hinunter. Die Dame am Telefon verweist mich an die Rega, wo eine ebenso freundliche Dame abnimmt. Ich erkläre ihr meine Lage und betone, wie unendlich peinlich mir das sei. „Bleiben Sie lieber wo Sie sind, wir holen Sie. Für das sind wir da!“, beruhigt sie mich. Keine 30 Minuten später knattert die rote Agusta heran, kunstvoll setzt der Pilot auf den schmalen Grasrücken auf, und nur Sekunden später schwebe ich ins Tal. Ein Riesenglück, dass Wetter, Gelände und Handyempfang dies ermöglicht haben. Die freundliche Crew setzt mich wenig später im Talboden ab und enteilt zum nächsten Auftrag. Tausend Dank Rega, Ihr seid grossartig!
Dann fahre ich zum Klöntalersee und lasse auf der Terrasse des Beizlis die Erlebnisse der letzten Stunden Revue passieren. Eine grossartige Tour, aber die gefährliche Fehleinschätzung wird mich trotz glimpflichem Ende belasten. Eigentlich wollte ich keinen Blogbeitrag darüber schreiben, denn Häme und Spott sind garantiert. Trotzdem bin ich froh, wenigstens beim zweiten Mal die Situation richtig eingeschätzt zu haben. Ich habe nicht nur Glück gehabt, sondern auch gelernt, über den eigenen Schatten zu springen.
Tourdatum: 25. Mai 2018
Nichts von Spott. Ich gratuliere zum Entscheid, nichts zu riskieren!
Oftmals schon hat hier falscher Stolz zu tragischen Ereignissen geführt.
Nix Häme, viel Lob für den richtigen Entscheid und obendrein dafür, den Blog gerade auch deswegen und so zu schreiben. Vorbild und hoffentlich dereinst Anlass in einer ähnlichen Situation dann auch so zu reagieren.
Hej, Glück gehabt, gratuliere! Das mit dem Heli hättest Du mir nicht unbedingt nachmachen müssen, gell!
😎
Immerhin konntest Du im Gegensatz zu mir den Flug geniessen 👍
Wer sich darüber lustig macht und spottet hat in den Bergen nichts verloren. Wie schnell wird eine Gefahrensituation unterschätzt oder man überschätzt sich. Finde diesen Betrag sehr gut und lässt einen wieder vorsichtiger werden.
Ich schliesse mich der Meinung der anderen Kommentatoren völlig an. Gute Entscheidung! Und danke, dass du die Erfahrung mit uns teilst. Das schärft meinen eigenen Blick für die Merkmale solcher Schneefelder.
Danke Dir herzlich für Deinen Bericht und die tollen Fotos. War vor mehr als 3 Jahren auf dem Rautispitz, habe mir gerade nochmals die Fotos mit all dem Schnee auf dem Weg Richtung Wiggis angeschaut und kann Dir versichern, dass Du mit der Nichtbegehung und dem Anruf bei der REGA die richtigen Entscheidungen getroffen hast. Hauptsache ist doch, dass Du sicher nach Hause gekommen bist.
Freue mich auf Deine weiteren Berichte und grüsse freundlichst aus dem Luzerner Hinterland
Jolanda
Hallo Edwin
Was für ein eindrücklicher Bericht! Da darf man wieder einmal lernen. Und erst die wunderbaren Bilder, vielen Dank!
Weiter unfallfreie Touren!
Herzliche Grüsse aus dem Emmental
Ursi