Der Sommer 2016 war bisher traumhaft. Eine schöne Tour nach der anderen, alles gelang. Heute ging es schief, die geliebten Berge zeigten Zähne. Ich schreibe nach langem Überlegen trotzdem einen Blogbeitrag dazu, einerseits um das Erlebte festzuhalten, andererseits um meine Bergfreunde zu warnen. Die beiden Gipfel Hoch Horenfellistock und Schinstock ob der Göscheneralp „leben“, der Permafrost hält sie nicht mehr zusammen. Das führt zu unkontrollierbaren Erlebnissen. Doch beginnen wir von vorn.
Wir parkieren beim Hotel Dammagletscher am Staudamm des Göscheneralpsees und biegen gleich auf den Hüttenweg zur Bergseehütte ein. Es ist herrliches Wetter, der Dammagletscher glänzt um die Wette und vermittelt Postkartenstimmung. Nach einer kurzen, leichten Steigung erreichen wir eine mystisch wirkende, hochmoorige Ebene mit abgeschliffenen Felsen und kleinen Tümpeln, in die sich Gipfel und Gletscher spiegeln. Wir verwenden viel Zeit, um die unverschämt schöne Eindrücke mit unseren Smartphones festzuhalten. Kalendersujets.
Dann führt der komfortable Hüttenweg in den nächsten Hang, wo er angenehm gestuft rund 400Hm zur Bergseehütte hoch mäandert. Auf halber Höhe zweigen wir links in die blau-weiss markierte Abkürzung ab, die uns etwas steiler und mit einer seilgesicherten Passage rasch zur Hütte hochhievt. Bald verwöhnen uns die Hüttenwartinnen mit ihrem Spezialkuchen (Linsertorte mit viel Zimt, fein!), auch das obligate Schorle schmeckt.
Wir folgen nun der blau-weiss markierten Route zur Chelenalphütte, die zunächst am hübschen Bergsee vorbeiführt und dann gleich zu einem Blockhüpfen wird. Das Hüpfen kostet Zeit, macht aber Spass. Nur Chris‘ Sonnenbrille verpasst den Takt und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in eine Spalte. Etwa 25 Minuten nach der Hütte verlassen wir die markierte Route. Wir steigen in die erste Steilflanke ein, die uns an den Fuss des Schinstocks führen soll. Auf der nächsten Anhöhe angekommen hat Chris genug. Er sieht nur noch Blöcke und Geröllhalden und hat heute keine Lust darauf. Erhard und ich gehen alleine weiter, Chris kehrt um und geniesst fortan gemächlich die Vorzüge des grünen Teils des Tals.
Wir steigen über die schier endlosen, flechtenbewachsenen Blockhalden weiter und nähern uns dann einer Geröllrinne, die steiler werdend zur Scharte zwischen Hoch Horenfellistock (3175) und Schinstock (3161) führt. Das gibt Alpinwanderern die Möglichkeit, diese unwegsamen Gipfel ohne Kletterausrüstung zu erklimmen. Wir pausieren kurz und saugen die Eindrücke der rauhen Umgebung auf. Auf der anderen Talseite glühen die Tierberge in ihrem rostigen Rot. Ein wunderschöner Anblick, auch wenn der Gedanke an die dort vor wenigen Tagen zerschellte F/A 18 nachdenklich stimmt.
Jetzt rein in die Rinne, und siehe da, alles bewegt. Erhard meint: „es läbt“. Ich mache mir etwas Sorgen, insbesondere weil auch viele grosse Brocken im Couloir liegen. Ich sage: „Du steigst links am Rand der Felsen hoch, ich rechts. Wir bleiben auf der gleichen Höhe“. Es ist ein Krampf. Je höher, desto steiler, desto mehr bewegt sich alles. Es geht so lange gut, bis ich auf einen grösseren Stein steige, der nachgibt. Ich stürze, aber nicht nur das. Die freigewordene Lücke füllt sich mit Kies, und gleich darüber setzen sich zwei richtig grosse Blöcke in Bewegung. Sie kommen in Zeitlupentempo auf mich zu. Ich muss zwischen Pest und Cholera wählen und entscheide mich für einen Sprung in die seitlichen Felsen. Die tonnenschweren Brocken kullern dicht an mir vorbei und kommen erst viel weiter unten wieder zum Stillstand.
Erhard ist weiss geworden, ich werde rot. Zumindest meine Beine und Arme. Auch das linke Handgelenk tut weh und mein Knie pocht heftig. Dank einem Adrenalinschub, Desinfektionsmittel, Pflaster, zwei Ponstan und dem Wissen, dass es weiter oben besser wird, kraxeln wir weiter. Nun allerdings beide dicht hintereinander auf der linken Seite, wo die Felsenneigung etwas flacher ist, und in denen es sich besser ausweichen lässt. Ins Geröll trauen wir uns nicht mehr.
Ich ärgere mich masslos, da ich dem Berg nicht mehr traue. Zu allem Übel erwartet uns in der Scharte nicht der Traumblick in die Voralp, sondern eine aufsteigende Wolke, die wenig später den ganzen Gipfel einhüllt. Wir lassen deshalb den Gipfel des Hoch Horenfellistocks links liegen und machen uns direkt an die Erklimmung des Gratabschnitts, der auf den Schinstock führt. Die Kletterei (II) ist ausgesetzt, aber gut zu bewältigen, auch wenn jeder Griff zweimal auf seine Festigkeit geprüft sein will. Auf halber Strecke müssen wir kurz in die Nordflanke ausweichen, was mir angesichts des losen Gesteins nicht behagt. Wir stellen uns vor, wie der ganze Berg unter unserem Gewicht in sich zusammenbricht. Auch der Gipfel selbst besteht schliesslich nur aus einem Haufen grosser Felsbrocken…
Wir bleiben nur kurz oben, ich will aus dieser Wolke heraus, um die Route nach unten einsehen zu können. So steigen wir zügig ab, es geht auf dem Ostgrat tatsächlich viel einfacher. Das Gefühl der instabilen Schutthalde bleibt. Endlos erscheint der Abstieg, über 700Hm müssen in dieser Steinwüste abgebaut werden. Zumindest zeigt sich bald die Sonne wieder, und so macht das Sustenhorn doch noch seine Aufwartung. Auch die Tiefblicke zum Bergsee und die Sicht auf die messerscharfen Gratkonturen der nahen Umgebung sind eindrücklich und entschädigen für die Mühe.
Die Orientierung ist nicht ganz einfach, da einige Steilpassagen umgangen werden müssen, aber schliesslich erreichen wir punktgenau die blau-weiss markierte Route, die von der Voralp- zur Bergseehütte führt. Wir machen uns an die steile, anspruchsvolle Gegensteigung (ca. 200Hm) zur Bergseelücke, die uns nochmals richtig ins Schwitzen bringt.
In der Lücke stehen blaue Wegweiser, und ein klettersteigähnlicher Abstieg führt uns rasch an den Fuss der Felsen in grasiges Gelände – endlich! Die Freude ist aber nur von kurzer Dauer, denn erneut muss eine gewaltige Blocksammlung überwunden werden.
Jetzt sind wir für unseren Geschmack aber definitiv genug gehüpft und freuen uns auf das Erreichen des Hüttenweges. Der Abstieg ist versöhnlich und Genuss pur, die Gletscher des Dammastocks wirken im Licht des späteren Nachmittags viel weicher als am Morgen, auch die Moorfläche erscheint uns nochmals eindrücklicher. Gut acht Stunden nach Abmarsch sinken wir in die Stühle des Restaurants am Parkplatz und lassen ein kühles Bier in unsere Hälse laufen.
Tourdatum: 2. September 2016
N.B. Ich werde diese Tour trotz ihrer alpinen Reize nicht wiederholen. Das Süd-Couloir ist im Spätsommer ohne Schneedecke und Permafrost eigentlich nicht mehr risikolos durchsteigbar. Es sei denn, man weicht auf die Felsen links davon aus. Ich hätte merken müssen, dass der letzte Hikr.org Beitrag dieser Route mehr als sechs Jahre alt ist. Auch das Buch „3000 Drüber und Drunter Schweiz“, von wo die Idee stammte, ist nicht mehr druckfrisch. Es wird mir eine gute Lehre sein, die Narben an meinen Beinen werden mich noch lange daran erinnern.
Wer den Schinstock besteigen will, tut das lieber über den Ostgrat, muss aber viel Liebe für langes Blockbalancieren mitbringen. Tipp: Die Aussicht ist vom leichter zu besteigenden, rund 300m tieferen Bergschijenstock annähernd so schön.
Uiuiui, nochmals Glück gehabt!
Keine Langzeitschäden?
Eher Langzeit-learnings…
Glück gehabt!
Gute Besserung.