Das Wildhorn ist einer der Superpanorama-Gipfel der Alpen. Komplett freistehend bietet er eine unvergleichliche 360 Grad-Sicht, an Tagen wie heute ist das fast nicht zu schlagen. Heute überschreiten wir ihn auf einer ungewöhnlichen Route und erleben das Wildhornmassiv in all seinen Facetten. Abwechslung pur, spektakulär, grossartig – nun aber genug der Superlative…
Um 4.00 Uhr morgens laufen wir am Lauenensee los und steigen bei Mondlicht auf den Chüetungel, wo die Kühe gerade erwachen und die Sennen noch schlafen. Wir verlassen den Wanderweg und folgen dem Tungelbach zum Fuss der unüberwindbar scheinenden Schützlene, eine dreistufige, rund 600m hohe Wand. Die erste Stufe lässt sich über ein schmales, grasiges Band relativ einfach passieren. Wir machen eine kurze Trinkpause und bewundern das schöne Licht, dass die aufgehende Sonne auf die umliegenden Berge wirft.
Die Überwindung der zweiten Felsstufe ist anspruchsvoller. Wir kraxeln (max. II) durch einen brüchigen Graben hoch, der zunehmend steiler und nässer wird. Zuoberst kommt eine der drei Schlüsselstellen der Tour, die durch ein dünnes, rostiges, aber hilfreiches Stahlkabel etwas entschärft wird. Ohne Bergführer Peter wäre ich hier umgekehrt. So stehen wir aber bald am Fuss der dritten Wand, die erneut durch einen langen Graben durchbrochen wird, den wir durchsteigen können. Hier kraxelt es sich einfach(er), auch wenn ich oben angekommen ausser Atem bin.
So erreichen wir die Silberritze, eine mondähnliche Landschaft mit verschiedenen kleinen Eisseen zwischen Niesehorn, Chilchli und Hahnenschritthorn. „Silber“ kommt wohl vom vielen kalkigen Schutt, der hier überwunden werden muss. Aber da noch ziemlich viel Altschnee herumliegt, geht alles einfacher und die einzigartige Szenerie lässt sich in vollen Zügen geniessen. Ich werfe einen Blick auf die Germannrippe (siehe unten) und bin froh, mich für den einfacheren Wildgrat entschieden zu haben. Trotz Peters starken Armen als Backup traue ich mir die Kletterei bis zu Schwierigkeitsgrat IV-V nicht (mehr) zu.
Am Katzengraben erreichen wir die Scharte zwischen Wildhorn und Hahnenschritthorn und bestaunen den Tiefblick in das Geltental mit seinen (noch) weissen Gipfeln, Gletschern und Wasserfällen. Dann folgen wir dem Gratverlauf. Der Wildgrat beginnt breit, wird dann schmäler und steiler und präsentiert sich schliesslich als Blockgrat, der viel Genusskraxeln bietet. Mein Lieblingsgelände, auch wenn etwas brüchig. Man prüfe jeweils kurz die Festigkeit eines Griffs, bevor man sein ganzes Gewicht daran hängt! Robinsonspielplatz für grosse Jungs. Bei Punkt 2942 treffen wir auf das obere Ende der Germannrippe und seilen uns an. Es gilt nun drei Türme zu übersteigen bzw. zu umgehen, die zu etwas mehr Vorsicht mahnen. Der Erste ist im Abstieg anspruchsvoll und damit die zweite Schlüsselstelle. Auch wenn es nur 2-3 Meter sind, die Griffe und Tritte sind nicht offensichtlich und ein Abseilen bietet sich mangels Fixierungsmöglichkeiten auch nicht an. Einfach langsam. Der zweite Turm muss – etwas ausgesetzt – westlich umgangen werden, bietet dann aber keine Probleme im Wiederaufstieg auf den Grat (max. II).
Dann werden das Seil wieder ein- und die Stöcke wieder ausgepackt. Über eine steile Schutthalde erreichen wir den Gipfelgrat. Hier kommt wieder ein grosser „Wow-Effekt“, da gleichzeitig der Tungelgletscher und die ganze Walliser 4000er Parade präsentiert werden. Über Blöcke, Schutt, Restschnee und mit etwas Felskraxelei erreichen wir – unterbrochen von vielen Fotopausen – kurz nach halb Zehn den höchsten Punkt des Saanenlandes.
Die Gipfelblöcke sind schnee- und windfrei und laden ein zu einer majestätischen Pause. Ich zähle die Gipfel jetzt nicht auf, sonst wird der Blogbeitrag zu lang. Atemberaubend – grosses Kino! Im Nu ist eine Stunde vorbei.
Für den Abstieg folgen wir dem Gipfelgrat und steigen dann in die Westflanke ein, wo uns die dritte Schlüsselstelle erwartet. Die Passage des etwa 25 Meter hohen Couloirs ist steil, brüchig und stellenweise vereist. Wir seilen uns ab, das macht alles einfacher. Grundsätzlich ginge es aber auch ohne. Peter meint, man müsse die losen Steine einmal wegräumen und ein paar klettersteigähnliche Griffe anbringen, dann würde diese Passage massiv erleichtert.
Unterhalb der Felsen finden sich nun Wegspuren, und bald surfen wir über das Firn zum Col de Brochet hinunter. Über den noch ganz zugedeckten Geltengletscher und viele Schneefelder, die den Abstieg wesentlich vereinfachen und beschleunigen, erreichen wir bald das wundersame Geltendelta mit seinen bis zu 14 Wasserfällen. Eine Kathedrale hätte nicht eindrücklicher gestaltet werden können.
In der frischrenovierten Geltenhütte kehren wir ein, und ich lerne ein neues Getränk kennen: Panaché mit Grapefruit anstatt mit Citro. Wunderbar, ein ganzer Liter geht fast von alleine die Kehle runter. Auch die Gulaschsuppe schmeckt. Vielen Dank, Marianne Stalder!
Wir chillen lange auf der Terrasse und blicken dankbar zurück zum Wildhorn. Immer noch keine Wolke am Himmel – was für ein Traumtag! Die Route von der Hütte hinunter zum Lauenensee habe ich schon mehrfach beschrieben, auch wenn dieses Naturschutzgebiet danach schreit, immer wieder von Neuem besungen zu werden. Auch für mich neu ist hingegen die „Abschussrampe“ des gewaltigen Geltenschusses, zu der mich Peter noch führt. Da spüre ich zum Schluss eines langen Tages doch noch etwas Nervenflattern und nähere mich dem „Ding“ nur kriechend…
Tourdatum: 20. Juli 2016
Kartenausschnitt Wildgrat (pdf)
Notabene: Mit einer neuen Kette im ersten Graben der Schützlene, einem Fixseil am ersten Türmchen und im Couloir der Wildhornwestflanke wäre die Tour eine T5. Wer installiert es? Ich beteilige mich gerne an den Kosten.
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