Wer von Mürren über die Sefinenfurgge zur Gspaltenhornhütte wandert und danach zur Griesalp hinabsteigt, bekommt so ziemlich alles zu sehen, was ein Bergherz begehrt. Eine Kulisse voller Berner Oberländer Gipfel, Gletscher, Gewässer, Blumen und Tiere. Zum Schluss wartet die steilste Postautostrecke Europas.
Wir sitzen am Panoramafenster des Hotels Edelweiss in Mürren beim Frühstück. Es ist kurz vor Sieben, die ersten Sonnenstrahlen streicheln die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau. Der Hotelier ist extra früher aufgestanden, damit wir drei uns zeitig auf den Weg machen können. Mit gut gefüllten Mägen laufen wir los und lassen das noch stille Bergdorf hinter uns. Der Weg ist zunächst noch breit, wir geniessen die Sicht auf die vergletscherte Gipfelparade des Hinteren Lauterbrunnnentals, die uns gestern verwehrt blieb, in vollen Zügen.
Die Sonne steigt hoch und streut ihr frühherbstliches Licht über die erwachenden Bergflanken und Täler. Bei der Spilbodenalp verschwinden die Jacken im Rucksack, die Sonnenbrillen werden montiert. Wir überwinden die kurze, scharfe Steigung auf das Bryndli und folgen dann gemächlich der Höhenkurve auf der Sefinen-Alp. Eine Gruppe Gämse lässt sich durch unser Stampfen erschrecken und stürzt sich über die ruppigen Hänge in die Tiefe. Dann ist es wieder still. Nicht einmal das einsame Murmeli pfeift, als wir in gebührender Entfernung an seinem Bau vorbeischreiten. Auf der Poganggen-Alp kommt uns eine grosse Herde Rindli entgegen. Die Jungs scheinen mehr Respekt vor uns zu haben als wir vor ihnen. Wir lassen sie trotzdem vorsichtig passieren.
Nach einem Kaffee in der Rotstockhütte (unverändert seit 40 Jahren) wird es alpiner. Noch 700 Höhenmeter mit viel Abwechslung fehlen bis zur Sefinenfurgge. Ich drehe mich immer wieder um, um das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau betrachten zu können. Der Gipfelgrat der Jungfrau sieht von hier aus noch steiler aus als meine Beinmuskeln es in noch frischer Erinnerung haben…
Nach gut drei Stunden Marschzeit erreichen wir die letzte, steile Rampe vor der Sefinenfurgge. Da der Schuttpfad heute dank des Regenswetters der letzten Tage schön fest ist, bereitet die Überwindung keine zusätzliche Mühe. So erblicken wir bald das wilde Kiental und als nächstes Highlight die Blüemlisalp-Gruppe.
Der Bergweg von der Sefinenfurgge zur Gspaltenhornhütte ist toll ausgebaut worden in den letzten Jahren. Pfähle, Tritte und Leitern erleichtern die Überwindung einiger heikler Stellen. Dreihundert Meter tiefer und eine knappe Stunde später erreichen wir den Eingang des Gamchitals. Wir drehen um die Trogegg – dann bleibt uns fast der Mund offenstehen: Vor uns baut sich die gigantische schwarze Seitenwand der Blüemlisalp auf, tief unter uns sprudelt der Gletscherbach aus den schuttbedeckten Resten des Gamchigletschers. Zuhinterst im Tal erhebt sich das Gspaltenhorn, das von dieser Seite aus seinem Namen wirklich gerecht wird. Auf einer Felsnase davor entdecken wir die gleichnamige Hütte. Wir setzen uns fasziniert auf einen schmalen Grasstreifen direkt über dem Abgrund und lassen die einzigartige Szenerie auf uns einwirken. Wir stärken uns etwas und nehmen dann den letzten, kurzen Aufstieg zur Hütte unter die Füsse.
Nach dem kurzen Hüttenbesuch erfolgt der Abstieg zunächst über den Moränenweg. Dieser führt nahe an den isolierten Eisblöcken der sterbenden Gletscherzunge vorbei. Wände und Brücken, stellenweise eingestürzt – ein eindrückliches Bild. Ich mache mir Gedanken über die Zukunft der Alpen und tröste mich damit, dass die Gletscher zu Hannibals Zeiten noch kürzer waren.
Der Hüttenweg hinunter zur Griesalp ist überraschend abwechslungsreich. Die verschiedenen Talstufen könnten nicht unterschiedlicher sein. Besonders in Erinnerung bleibt das Wegstück unter einer langen Felswand, von der es über weite Strecken heftig auf den Pfad regnet. Eine Regionalbank hat unten und oben ein Schirmdepot montiert – sehr kreativ, danke vielmals!
Weiter unten wird es grüner, und bald erreichen wir über blumige Weiden und durch wohlduftende Wälder die Griesalp. Das Postauto fährt uns vor der Nase weg, aber nach einer erfrischenden Abkühlung im Brunnen und einem Kübel Panaché chauffiert uns der redselige Taxi-Gerber für einen vernünftigen Preis direkt nach Spiez auf den Zug. Wir erfahren dabei nicht nur alles über die steilste Postautostrecke Europas, sondern auch die anderen Geheimnisse des Kientals. Die erzähle ich hier nicht weiter. Geht hin und fragt ihn selber – es lohnt sich!
Tourdatum: 21. August 2015
Wiederum ein textlich sehr interessant dokumentierter Beitrag mit äusserst schönen Bildern. Erinnerungen werden wach, auch an zahlreiche tolle Bergerlebnisse an der „Blüemlisalp“.
Gratulation zum tollen Bericht!
Als Ergänzung: Unter http://www.gletschervergleiche.ch/Pages/ImageCompareDet.aspx?Id=10 sind Vorher/Nachher-Fotovergleiche zu sehen, welche die Veränderungen am Gamchigletscher seit 2010 dokumentieren.