Der Mai ist nicht gerade die beste Zeit zum Wandern in Zermatt. Der Schnee reicht noch weit herunter ins Tal, und die Natur beginnt erst aus dem langen Winterschlaf zu erwachen. Aber weil unser Partnerseminar mich ins Mattertal ruft, kommen die Wanderschuhe natürlich mit – dummerweise aber kein Rucksack, keine Stöcke und keine Steigeisen. Sonntags früh zieht es mich über die aperen Südhänge hoch auf die Höhbalmen-Runde. Nirgends sieht man das Matterhorn im Profil schöner, darauf will ich nicht verzichten.
Mitten im Dorf zweigt eine schmale Gasse Richtung Trift ab. Rasch gewinnt man Höhe und ist im Nu alleine. Durch den hellgrünen Arvenwald gelange ich zum – natürlich noch geschlossenen – Alpenrösli-Beizli.
Ein schmaler Pfad zweigt hier ab zur Höhbalmen-Direttissima, er ist jedoch vor lauter am Boden liegenden Baumstämmen kaum zu finden. Die Waldarbeiter sind offenbar noch am Werk. Ich gewinne über noch braunen Weiden rasch an Höhe, bald liegt das schon fast zur Stadt angewachsene Dorf 1000 Höhenmeter unter mir. Jetzt flacht das Gelände ab – und damit die Exposition zur Sonne. Mit dem terrassenähnlichen Gelände der Höhbalmen kommt der Schnee – viel Schnee.
Die Karte kommt zur Hand, denn jetzt gilt es den weiteren Verlauf der Route zu erraten. Das Matterhorn und seine umliegenden Freunde, insbesondere die Monte Rosa- und die Mischabel-Gruppe, präsentieren sich derweil prächtig. Ich geniesse die wunderbare Szenerie in der Ferne, habe dann aber ziemlich mit dem harten Schnee und der Orientierung zu kämpfen. Keine Spuren im Schnee, ich bin offenbar der erste Berggänger hier in diesem Jahr. Ich nehme zusätzliche Höhenmeter in Kauf, um vom Wisse Tschugge (2797, höchster Punkt der Tour) aus eine bessere Übersicht zu gewinnen: Alles weiss, so weit das Auge reicht. Der vorgesehene Abstieg ins Arbental dürfte mit Hartschnee ohne Steigeisen an der Füssen wohl zu steil sein. „Soll es so sein“, sage ich mir, „umdrehen kannst Du ja immer“. Dennoch stapft es sich durch die weisse Einsamkeit immer schwerer. Fatalistisch schmunzelnd warte ich auf die Begegnung mit einem Yeti, während mein vorsichtiges Alter Ego mir gleichzeitig die Kapitulation schmackhaft macht. Da kommt mir plötzlich eine rote Gestalt entgegen: Kein Tier – ein Engel. Der bärtige Einheimische wallisert mir nämlich zu, dass er erst seit zehn Minuten auf Schnee laufe, der Steilhang hinunter ins Arbental sei komplett aper. Aufatmen. Ich gönne mir eine Pause und setze mich freudig erleichert auf einen sonnengewärmten Stein. Bald beisse ich in meinen einzigen Schoggiriegel und geniesse die eindrückliche Seitenansicht des „Hörus“.
Wenig später im Abstieg, beim Erblicken des Obergabelhorns, bricht die aufgestaute Freude richtig aus mir heraus. Ich beginne lauthals etwas frei interpretierte Belcanto-Arien zu singen – und werde gnadenlos von einer entsetzten Gruppe Murmeltiere ausgepfiffen. Lachend schalte ich auf eine Stufe lauter. „Schön händ ihrs da!“, rufe ich ihnen zu! Die Glückshormone sprudeln.
Einmal auf dem Schönbielpfad angekommen, wird das Hinunterlaufen sanft und angenehm. Überall fliesst Schmelzwasser, die Wanderschilder zeigen noch die Spuren des Winters (siehe Foto). In Zmutt kommt schliesslich die Zivilisation zurück. Dank der Wanderlustigen aus Zermatt sind hier die Beizli schon offen. Der Kübel Apfelschorle ist im Nu leer, auch der Nussgipfel mundet exzellent. Die letzten Kilometer ins Dorf zurück führen durch den frühlingsgrün leuchtenden Arvenwald. Auf der sonnigen Terrasse des Walliserhofs geselle ich mich wieder zu meinen Kollegen und geniesse ein feines Wiener Schnitzel. Zermatt ist eine Reise wert – auch oder gerade im Mai. Einfach das nächste Mal besser ausgerüstet!
Kartenausschnitt Höhbalmen (pdf)
Tourdatum: 25. Mai 2014