Heute schliesse ich eine kleine Lücke in meiner West-Ost-Transversale: die zweite Etappe der Durchquerung des Rätikons über das Cavälljoch zum Schweizertor, zur Caschinahütte und hinunter nach St. Antönien. Dazu muss ich zuerst vom Eggli über Fanas über das Fadurer Fürggli wieder zur eindrücklichen Riege dieser unverwechselbaren Kalkbrocken hochsteigen. Eine lange Tour mit viel Genuss. Nur die finale Trottifahrt verpasse ich.
Die Aussicht auf einen herrlichen Herbsttag im Rätikon ist wesentlich anziehender als mein Pflichtgefühl, den Tag im Büro zu verbringen. So steige ich um halb Neun anstatt in eine Videokonferenz in den Kleinbus von Schiers nach Fanas. In diesem malerischen Dorf, das am Hang hoch über dem Talboden des Prättigaus klebt, besteige ich das in die Jahre gekommene Eggli-Bähnli. Das Kabinchen hievt mich in einer knappen Viertelstunde gemächlich auf das Eggli (1700m), wo meine Tour beginnt.
Es herbstet überall. Die Bäume sind gelb, die Wiesen braun, die Kühe wieder im Tal. Der Himmel klar und die Sicht fantastisch. Ich bin alleine, und werde das fast den ganzen Tag bleiben. Die Herbstferien sind vorbei, es ist der „Montag danach“. Es ist still, keine Insekten, keine Vögel, kein Wasser, nur Stille. So steige ich im forschen Schritt über die Flanken des Salginatals zum Fadurer Fürggli hoch. Nach einer Kurve treffe ich auf eine grosse Herde Gämsen, die mindestens so erschrecken wie ich. Innert Sekunden verschwinden sie galoppierend in die Büsche, ich kann nicht einmal ein Foto machen. Schade, aber janu. Besser als Herdenhunde, die sich gegen ungewollte Besucher zur Wehr setzen.
Auf dem Fürggli angekommen freue ich mich auf die nun freigewordene Sicht auf den Dominator des Rätikons, den Schesaplana. Ich denke mit viel Freude an die grossartige Tour auf diesen Brocken zurück. Etwas später bei Golrosa kreuzt sich meine Route mit jener von vor drei Jahren. Golrosa ist die Wasserscheide zwischen dem westlichen und östlichen Teil der schweizerischen Seite des Rätikons. Hier führen fast alle Routen durch. Ich schmunzle, als ich den Brunnen sehe, der mich beim letzten Besuch „gerettet“ hat, weil ich zu wenig Wasser mitgenommen hatte. Heute habe ich genug im Rucksack – man ist ja lernfähig!
Munter steige ich weiter zum Cavälljoch hoch, einem breiten, gutmütigen Rücken, der einen einfachen Übergang nach Österreich und zum Lüner(stau)see bietet.
Von nun an folge ich dem Prättigauer Höhenweg, der unter den südlichen Wänden des Chilchlispitzes zum Schweizertor hinunterführt. Dieses Schweizertor ist ein weiterer Pass nach Österreich, nun aber von ganz anderem Kaliber als das Cavälljoch! Ein schmaler, schwer zugänglicher Schlitz zwischen den Kalkwänden des Chilchlispitzes und der Drusenfluh, eine Laune der Natur. Das muss ich zwar nicht hin (es liegt nicht auf der Route), aber das reizt mich und ich mache den Abstecher.
Ich wähle die Abkürzung, die sehr steil zu einem Wändchen unter das Tor führt. Dieses muss klettersteigartig überwunden werden (eine kleine Tafel warnt die Ahnungslosen), Ketten, Drahtseile und Stahlstifte helfen. Das ist ganz schön schweisstreibend und über etwas mehr als 30 Höhenmeter sehr ausgesetzt. Wer das nicht mag, muss östlich ausholen und 15-20 Minuten mehr Zeit für die Normalroute einplanen. Für mich ist das ein Highlight – ich nutze die Normalroute später für den Abstieg bzw. für die Fortsetzung meiner Tour in Richtung Carschinahütte.
Es zieht sich zu dieser Hütte, aber die Aussicht auf die unwegsamen, rohen Wände der Drusenfluh ist spektakulär. Es bröckelt auch immer mal wieder. Das dumpfe Echo der fallenden Steine prägt sich nachhaltig in mein Tour-Gedächtnis ein. Natürlich habe ich auch Freude an der fantastischen Weitsicht in die Bündner Bergwelt, aber mein Fokus liegt heute eindeutig auf diesen Kalkriesen. Nach der Drusenfluh kommt die Sulzfluh mit ihren bizarren Zacken, Zähnen und Türmen. Grossartig! Wie gerne denke ich an die Klettersteigtour mit Lea zurück, die mich vor 11 Jahren letztmals auf diese Steinfestung führte! Und ja: Natürlich werde ich in Partnun wieder ein Trotti nach St. Antönien nehmen. Es kommt Vorfreude auf!
Schliesslich erreiche ich den Pass, auf dem die Carschinahütte liegt. Sie ist schon seit einer Woche „eingewintert“. So habe ich die schöne Terrasse für mich alleine und geniesse meinen letzten Ovo-Riegel und leere die Reste der dritten Wasserflasche. Ich nehme mein iPhone hervor und schaue nach, wo die Trottis von Partnun bereitstehen. Aber oje! Sie stehen leider nirgends mehr… ich bin einen Tag zu spät! Saisonende war gestern, am 20. Oktober ….
Janu, dann eben laufen….nicht nach Partnun, sondern direttissima nach St. Antönien. Immerhin noch rechtzeitig gemerkt. Damit das etwas schneller geht, wähle ich das Alpsträsschen für den Abstieg. Denn es kommt Druck auf. Ich habe versprochen, um 18.00 Uhr zuhause zu sein, um pünktlich für den Geburtstag von Corinne da zu sein. Das wird knapp werden. Also: joggen, und trotzdem die tolle Landschaft geniessen.
Und schliesslich noch das Glück haben, dass – einmal auf der Talstrasse angekommen – ein Auto vorbeifährt und mich nach St. Antönien mitnimmt. Dank der gesparten Kilometer komme ich noch dazu, ein paar Fotos von diesem stillen Bergdorf zu machen, bevor mich das Poschti wieder ins Tal kutschiert.
Tourdatum: 21. Oktober 2024
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Eggli-Golrosa-Carschinahütte (pdf)