Die rauhe Welt des Tschingelgletschers

Der Oberhornsee ist ein Traumziel vieler Wanderer – auch von mir. Doch für einmal ist er nur ein Ausgangspunkt. Die heutige Alpinwanderung führt mich in das raue Tal dahinter, das vom mächtigen Tschingelgletscher beherrscht wird. Mein Tagesziel ist der Tschingelpass am Fuss des Mutthorns.

Meine Wanderfreunde wissen, dass das Hintere Lauterbrunnental mit Schmadribachfall, Berghotel Obersteinberg und Oberhornsee seit meiner frühen Jugend zu meinen Evergreens, ja sogar zu meinen Sehnsuchtszielen gehören. Wer mehr darüber wissen will lese diesen Blogbeitrag.

Heute dient der lauschige Aufstieg von Trachsellauenen zum Oberhornsee nur zum Aufwärmen. Das geht heute zügig frühmorgens, just mit dem ersten Sonnenstrahl stehe ich am Ufer dieses einzigartigen Kleinods. Ich esse und trinke etwas, derweilen meine Augen vom Breithorn über das Tschingelhorn zum Lauterbrunner Wetterhorn gleiten. Und dann hinunter zu den Rillen auf der von einer Brise aufgerauten Wasseroberfläche. Grün kontrastiert mit Fels und Els, die letzten Sommerblümchen setzten das Tüpchen aufs i.

Oberhornsee mit Tschingelhorn und Lauterbrunner Wetterhorn

Doch mit dieser blumigen Bergromantik ist es bald vorbei. Ein Pfad führt auf eine Seitenmoräne, die die Grenze zwischen lebendiger Alp und rauher Steinwüste markiert. Eine Tafel informiert, dass die Mutthornhütte geschlossen ist und wegen eines drohenden Felssturzes nicht mehr besucht werden kann. Der Pfad dorthin wird zur Spur, die vorläufig noch blass blauweiss markiert ist. Sie wird aufgrund der geschlossenen SAC-Hütte derzeit nicht gepflegt. Es ist deshalb herrlich einsam hier.

Über Bäche und Blöcke biege ich in das weite Gletschertal ein und erreiche auf rund 2260m Höhe ein Wasserdelta am Fuss der Gletscherzunge. Das Eis ist noch da, aber vollständig von Schutt bedeckt. Ich hüpfe von Stein zu Stein über das Delta um nasse Füsse zu vermeiden. Das ist am Morgen einfacher als am Nachmittag – der Pegel steigt je nach Temperatur beträchtlich an.

Auf der Moräne – da rechts geht’s durch zum Tschingelgletscher
Die steinbedeckte Toteis-Gletscherzunge und das Wasserdelta. Die optimale Aufstiegsroute verläuft gleich rechts vom Gletscherbach

Hier enden die Markierungen abrupt. Ich suche mir einen Weg gleich rechts des Gletscherbachs aus und erreiche über den Schutt den nächsten Talboden auf rund 2340m. Hier ist der Gletscher komplett abgeschmolzen, unter der nächsten Zunge hat sich ein flacher See gebildet. Sehr schön! Und immerhin haben hier ein paar Pionierpflänzchen schon wieder einen Platz zum (über-)leben gefunden.

Auf 2340m kommt die heutige Gletscherzunge ins Blickfeld
Der flache Gletschersee. Meine Route verläuft rechts über den schuttbedeckten Teil des Gletschers

Ich peile nun die vermeintliche Moräne rechts des Gletschers an, merke aber bald, dass dies eine Moräne AUF dem Gletscher ist. Über die Steine steigt es sich leicht, die Richtung ist klar – aber zwischendurch stehe ich immer wieder vor einer tropfenden Spalte…eindrücklich! Auf 2500m ist die nächste Talstufe erreicht. Jetzt sehe ich den Tschingelgletscher in seiner ganzen Pracht und Mächtigkeit, wie er westlich und östlich das Mutthorn umfliesst. Grossartig!

Die Gletscherwelt östlich des Mutthorns mit Tschingelhorn …
… und westlich des Mutthorns. Zuoberst ist der Tschingelpass mit dem Übergang aufs Kanderfirn

Ich ziehe meine Spikes über die Schuhe und wechsle vom Schutt auf das Eis. Noch sind es gut zwei Kilometer zum Tschingelpass. Es sieht aber gut aus für einen ungesicherten Alleingang. Der Gletscher weist hier nur wenig Spalten auf und ist bis fast zuoberst blank. Trotzdem – ich nehme mir vor, wenn nötig jederzeit umzukehren und verspreche mir selbst, dass ich spätestens um 12 Uhr wieder auf der Moräne zurück sein will. So gebe ich munter Gas. Fasziniert beobachte ich indessen die Spielereien des Schmelzwassers unter meinen Füssen. Ein Gletscher lebt eben – es gurgelt oder rauscht immer irgendwo.

Diesen Schneebrücken halten sicher nicht (mehr). Rechts oben die Gamchilücke
Diese Farben!

Kurz vor dem Pass wird es etwas steiler und stellenweise schneebedeckt. Das ist unangenehm, den hier tun sich nun breite, tiefe und sehr lange Querspalten auf. Die Schneebrücken sind um diese Jahreszeit falsche Freunde, die auf keinen Fall getestet werden wollen. Schliesslich finde ich ziemlich mäandernd einen Weg bis etwas über der Passhöhe und erkläre mein Ziel als erreicht.

Tschingelpass mit Sicht auf Petersgrat und Kanderfirn

Mein Blick wandert zum berühmten Petersgrat, dann zur Stelle, wo ab 2025 die neue Mutthornhütte gebaut werden soll. Schliesslich schaue ich etwas wehmütig zur Gamchilücke hoch, die früher einen beliebten Wanderübergang zur Gspaltenhornhütte und ins Kiental bot. Daran hat der Steinschlag leider ein Ende gesetzt.

Weil ich hier nirgends wirklich absitzen kann, verschiebe ich die Lunchpause auf später. Ich drehe mehr als zufrieden um und nehme – zuerst wieder sehr vorsichtig um die Spalten  drehend – den viel schnelleren Abstieg unter die Füsse. Punkt 12 Uhr streife ich die Spikes auf der Moräne wieder ab.

… und wieder runter über die holprige Eispiste
Gletscherkunst
Wenn sich unter den Steinfeldern Spalten auftun ….

Auf dem langen Weg zurück ins Tal nehme ich mir viel Zeit. Es fühlt sich gut an, dass die solo Alpinwanderung zum Pass gelungen ist. Entsprechend intensiver geniesse ich jetzt das Studium der skurrilen Formen des Gletschers und seiner Umgebung, die tosenden Bäche und die seltenen Pflänzchen in dieser unwirtlichen Steinwüste.

Eine schöne Rutschbahn
Mit der Sonne kommt das Wasser …. dahinter das Breithorn

Und ja, im Delta gibt’s natürlich nasse Füsse. Die trocknen aber schnell beim späteren Chillen am Oberhornsee. Eine Stunde später geniesse ich den frisch gebackenen Apfelkuchen auf der Terrasse des Obersteinbergs, begleitet von der romantischen Musik des rauschenden Schmadribachfalls.

Oberhornsee mit Blick auf die Rückseite der Jungfrau
Die vielen Gletscher des Hinteren Lauterbrunnentals und der Schmadribachfall

Im Abstieg nach Trachselauenen bin ich euphorisiert. Ich singe lauthals Songs, die mir gerade in den Sinn kommen. Und lache über mich selber.

Ach du schönes Tal und zauberhafter Oberhornsee! ich komme wieder, so lange mich meine Füsse tragen!

Tourdatum: 7. September 2024

Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Tschingelgletscher (pdf)

1 Kommentar

  1. Oh, Obersteinberg so schön! habe letztes Jahr dort übernachtet. Am zweiten Tag zum Oberhornsee gewandert. Tage an die ich immer gerne zurück denke. Tolle Touren machst Du. Bin grad etwas neidisch über Deine Kondition! 🤗 Häb Dir sorg! Grüsse aus Thun

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