Der Schmugglerpfad zur Sesvenna

In Sur-En bei Sent zweigt das Uina-Tal vom Unterengadin ab, das lange ins Nichts führte. Bis 1910 ein Pfad durch die unüberwindbare Schlucht an deren Ende geschlagen wurde. Dahinter führt mein Weg über die weite Alp Sursass bald nach Italien. Von der Sesvennahütte steche ich hoch zum Sesvenna Furkel und tauch schliesslich durch das wildromantische Sesvennatal nach S-charl ab. Eine höchst abwechslungsreiche Tour, die zwar etwas Kondition erfordert, die man aber dank der Hütte auch in zwei Tagen machen kann.

Hinter dieser Holzbrücke über den Inn beginnt das Val d’Udain

Ich bin alleine im Postauto, das mich um 6.30 von Scuol nach Sent Sur-En bringt. Der Wetterradar droht mit heftigen Gewittern für diesen Juli-Nachmittag, entsprechend früh und speedy mache ich mich auf die Socken. Ein gut ausgebauter Forstweg führt durch die Talenge bis zur Alp Uina Dadaint auf 1800m. Das ist zwar für Berggänger etwas langweilig, aber dafür schnell. Mit dem E-Bike wäre das toll, denke ich, aber dann muss man natürlich auf demselben Weg zurück. Das laute Rauschen des viel Wasser führenden Bachs entschädigt indessen für vieles.

Das Tal ist zu Beginn recht eng und wild

Die Alp ist gleichzeitig eine Besenbeiz, aber dafür ist es jetzt noch zu früh. Ich freue mich, dass der Forstweg nun zum Pfad wird und sich das Tal öffnet. Bald sehe ich die Wände und die Schlucht, auch der herausgehauene Felsenweg zeichnet sich schon von weitem ab. Das wird spannend!

Die Alp und Besenbeiz Uina Dadaint. Bis dahin ginge es mit dem E-Bike auch gut.
Die Wände des Piz da Gliasen und die Schlucht scheinen unüberwindbar

Am Eingang der Schlucht treffe ich auf eine überdimensionierte Bank, die zu einer ersten Pause und zum Studium dieses Bauwerks lädt – eine Tafel orientiert. Warum der Deutsche Alpenverein und die Bündner Regierung die 32‘000 Franken aufwenden wollten, um diesen fast 1000m langen Felsenweg inklusive zweier Tunnels aus dem Berg zu hauen, entzieht sich meiner Kenntnis. Warum heisst es denn überall, dass dies ein Schmugglerpfad war? Etwa ein kantonal geförderter? Whatever – er macht grosse Freude und ist wahrlich spektakulär! Mein Bubenherz klopft aufgeregt als ich ihn durchschreite.

Fünf Eindrücke des mit brachialer Gewalt aus dem Berg gehauenen Pfads

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Wände weichen und ich zu meinem grossen Erstaunen auf eine friedsame, überbreite Alp mit Millionen von Blumen eintreffe. Was für ein Kontrast zum wilden Engpass! Diese Weiden hier werden wohl von den Vinschgauern bestossen, obwohl wir bis zur nahen Scheitelhöhe des Schlinigpasses noch in der Schweiz sind.

Sanfte und saftige Weiden am Schlinigpass

Auf der italienischen Seite treffe ich bald auf die Sesvenna-Hütte, wo ich im breitesten Tirolerdeutsch begrüsst werde. Das muss natürlich belohnt werden, und so bestelle ich mir ein grosses Holunderschorle und nehme ein Stück Apfelstrudel, auch wenn ich eigentlich noch keinen Hunger habe. Der Wetterradar geistert in meinem Kopf herum, den ich aber gar nicht mehr konsultieren kann, da die ganze Tour ausserhalb des Netzes stattfindet. Aber es ist erst ja halb 10 und die Wolkenfetzen, die um die herumliegenden Gipfel streichen, machen mir eigentlich keine Sorgen.

Eine Trutzburg als Talwächter bei der Sesvenna-Hütte (das ist nicht die Hütte selbst)

Trotzdem mache ich mich bald auf und nehme die Steigung zur Sesvenna-Furkel unter die Füsse. Zügig, aber nicht ohne immer wieder innezuhalten um die tolle Flora zu bewundern. Mal sind’s die Alpenrosen, dann wieder die gelben „wie heissen sie auch wieder-Blümchen?“, dann das Wollgras an den zahlreichen Tümpeln, an denen ich vorbeigehe.

Es wird alpiner, ab 2600m liegen Schneereste, aber nicht mehr viel. Kurz vor der Passhöhe muss ich anhalten. Ich bin einfach zu schnell unterwegs, es droht mich zu „verblasen“. Ich beschimpfe mich selber. Janu, das ist bald vergessen, als ich nach ein paar Minuten Erholung den 2800m hohen Pass erreiche. Die Sicht auf das vor mir liegende Sesvenna-Gruppe ist noch perfekt! Es ist erst halb Elf – also jetzt bitte kein Stress mehr Junge!

Der Blick zurück vom Sesvenna-Furkel zum Föllakopf

So gesagt, so getan. Ich geniesse eine längere Rast auf dem Pass und beobachte die Wetterkapriolen relaxt. So langsam bilden sich eben doch schon graue Türme, die immer grauer werden. Aber sie sind noch hoch und versperren mir nicht die Sicht. So wird der lange Abstieg durch das wildromantische Sesvenna-Tal zu einem reinen Genusslaufen.

(Noch) freie Sicht aus den Piz Sesvenna und sein Gletscher, links der Muntpitschen

Zuerst ist es noch sehr alpin – Schnee, ein Gletscher und viel Geröll. Doch nach einer Steilstufe folgt eine breite Ebene nur so strotzend mit intensivster Flora und einem atemberaubenden Bach. Ich beneide die Kühe, die hier den Sommer verbringen dürfen. So schön!

Kitschiges Kuhleben …
Ohne Worte

Weiter unten folgen die ersten Föhren, auch sie zeichnen wieder ein ganz anderes Landschaftsbild. Herrlich! Auf der Alp Sesvenna treffe ich schliesslich auf die Route, die mich letzten Herbst auf den Piz Lischana geführt hat – eines der Highlights der Wandersaison 2023.

Föhrenzauber kurz vor der Alp Sesvenna

Schliesslich grinse ich spitzbübisch als ich S-charl sichte und es trocken erreiche. Es gibt ein Panache und eine Portion Lasagne als Belohnung. Als ich wenig später den Bus nach Scuol besteige, fallen die ersten Tropfen. Wenig später schüttet es wie aus Kübeln.

Tourdatum: 19. Juli 2024

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

Kartenausschnitt Sesvenna-Runde (pdf)

4 Kommentare

  1. so schön, aber auch: so weit! immerhin könnte man 2 tage machen….. mich nimmt wunder, woher edwin immer diese schönen und interessanten touren her hat. und ich staune, dass er immer dran denkt, an den spannenden orten eine foto zu machen. ein genuss, nur schon das zu lesen und die freude mitzuerleben….

  2. Grossartig wie immer – danke Edwin. Wir haben die Route auf unserer Junggreisentour vor rund 5 Jahren in 2 Tagen gemacht und die herrliche Landschaft und die liebenswerte Bewirtung in der Sesvenna-Hütte genossen. Und den Alpabzug nach Scarl und eine Lesung der Dichterin Leta Semadeni erlebt und am folgenden Tag den Aufstieg über Tamangur auf den Ofenpass und weiter nach Zernez – auch eine tolle Wanderung!

  3. ganz herzlichen Dank für die wunderschöne Beschreibung einer Tour,welche ich vor einigen Jahren erlebt habe und mit deiner Beschreibung sind alle Erinnerungen wieder da.

  4. Sehr schöne Tour und Bilder.
    Recht weit in einem Tag. 3h zur Sesvenna Hütte ist eine gute Marschzeit. Super. Mich dünkt das ist eher eine Trail-Runnerzeit.

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