Als ich am Morgen den Vorhang aufreisse, begrüsst mich der Tag mit frischem Schnee und einem blauen Himmel. Es ist klirrend kalt. Der ferne Uri Rotstock nickt mir zu und lädt zur Skitour. Doch solche Traum-Wintertage sind in Zollikon selten und wollen entsprechend genutzt werden. Warum auch in die Ferne fahren, wenn das Schöne vor der Haustüre liegt! So entsteht die Idee, für einmal ein Winterwandermärchen zu schreiben. Es heisst: „Die Schöne und das Biest“. Neugierig geworden?
Es ist nur ein kurzes Stück von zuhause zum Wehrenbachtobel, eine Oase inmitten einer grünen Lunge Zürichs. Ich wandere zuerst durch unser hübsches Jugendstil-Quartier, überquere das Riet (den Fussballplatz) zu den Genossenschaftssiedlungen und den Schrebergärten und quere anschliessend durch die Zürcher „Hospital-City“ zum Balgrist. An der Tramhaltestelle schnappe ich mir schnell den besten Schoggi-Gipfel der Stadt. Den gibt es bei „Eric’s“, anno dazumal die „Bäckerei Baumann“ – aber mit dem schicken Vornamen lässt sich der Preis der Leckerei besser rechtfertigen. Anerkennend mampfend tauche ich wenige Meter weiter in den Wald ein.
Das Wintermärchen beginnt – denn jetzt bin ich bei der „Schönen“ – das Wehrenbachtobel ist das Lieblichste seiner Art am ganzen Pfannenstiel (es gibt mindestens sieben Tobel). Und heute besonders! Der Pulverschnee knirscht betörend unter meinen Sohlen. Die mit der weissen Pracht beladenen Äste hüllen den Pfad wie ein festlicher Reigen ein. Das Wasser gurgelt dumpf, das Plätschern der Wasserfälle über die Wehren wird vom Schnee verschluckt.
Ich bin fast alleine unterwegs, das ist an den Wochenenden nicht so. Der elegante Bachlauf ist längst kein Geheimtipp mehr. Das Teilstück bis zur Trichtenhausermühle wird von Joggern, Bikern, Hündelern und Wanderern gleichermassen geschätzt. Weiter oben wird es ruhiger – aber nicht minder romantisch. Neben der Mühle erhebt sich ein grosses Wasserrad, das einst die Energie für das Sägewerk lieferte. Der noch funktionierende Zeitzeuge ist ein Eyecatcher im Sommer, heute präsentiert er sich vom Eis erstarrt.
Wenig später überquere ich die Binzstrasse und betrete jenen Teil des enger werdenden Tobels, in dem ich manch freie Stunde meiner Kindheit verbrachte. Wir stauten den Bach, gruben Höhlen unter den Wurzelwerken der Bäume (bis sie umstürzten…) und rauchten heimlich „Nielä“, die am Waldrand wuchsen. Heute begegne ich einem Reiher, der sich geschickt jonglierend einen Weg durch die Äste sucht, um danach im Wasser stehend Ausschau nach Beute zu halten.
Beim Weiler Sennhof verlasse ich den Wald und steige über die Brunnewisen hoch zur Krete – der Grenze zwischen Zollikerberg und Binz. Auf diesem „Pass“ sieht man schön ins Glatttal und bald auf den Greifensee hinunter. Ich folge diesem Gratrücken im stetigen Auf und Ab bis zum Wehrmännerdenkmal auf der Forch, dem höchsten Punkt meiner Wanderung. Der Schnee liegt hier oben einiges höher als beim rund 300 Meter tiefer gelegenen See, im stillen Wald ist er noch unberührt. Herrlich.
Beim Wehrdenkmal erwartet mich das grandiose Alpenpanorama. Zulange stehen bleibe ich jedoch nicht, es ist wirklich richtig kalt, die Bise grüsst. Zeit für eine Einkehr in der Krone Forch, die mich heute mit tibetanischer Küche überrascht.
Gewärmt und gestärkt mache ich mich später auf den Rückweg nach Zollikon. Dieser führt zunächst über das offene Feld zum Weiler Wangen. Dort tauche ich in das Küsnachter Tobel ein. Und das ist das Biest, allerdings ein gezähmtes Biest. Dieser stürmische Bach hat sich nämlich viel tiefer in die Molasse hineingefressen als sein lieblicher Nachbar. Unzählige Wehren haben seine Kraft schliesslich gebändigt. An zählreichen Picknick-Plätzen vorbei und über elegant geschwungene Brücklein führt der Pfad nach Küsnacht hinunter. Und ja: An das „Biest“ erinnert heute noch die „Drachenhöhle“, ein wohl nicht nur für kleine Kinder schauerlich wirkendes Felsloch oberhalb des Weges. Auch die monströsen Findlinge im Tobel sind würdige Mahnmale der Gewalt der Natur.
Schliesslich führt mein Weg über viele Stufen wieder hoch zum Schübelweiher in Itschnach. Dabei schiesst mein Puls kräftig hoch. Das unterstreicht, welch ganze Arbeit das Wasser über die Jahrtausende geleistet hat. Am Tobelrand soll übrigens demnächst eine Hängebrücke installiert werden. Sie wird die Wanderer künftig mühelos über das Tobel surfend zur Küsnachter Allmend führen. Ich freue mich darauf.
Mein Winterwandermärchen führt weiter entlang des verträumten Schübelweihers zum Rumensee. Beide könnten sich mit ihrer feinen Eisschicht und umrahmt von schneeverzierten Bäumen fast nicht romantischer präsentieren. Wunderbar! Nach gefühlten zehn Fotos traversiere ich den Wald nach Zollikon zurück, wo die Passage über die Allmend ein weiteres Highlight der Wanderung ist. General Guisan (bzw. sein Denkmal) ist zu beneiden: Der ausladende Blick auf das eingepuppte Dorf mit seinem keckem Kirchturm, dem See, die Albiskette und dem Alpenkranz ist nur einfach herrlich.
Beim Parkplatz Fohrbach gibt es heisse Marroni und andere Wintersnacks zum Aufwärmen. Dann tauche ich in das letzte „Töbelchen“ ein, das mich 10 Minuten weiter unten an der Stadtgrenze wieder ausspuckt. Von dort bin ich bald wieder zuhause – und meine Nachwanderer finden nach wenigen Hundert Metern das Tram beim Balgrist – oder die warme Stube von Eric’s!
Tourdatum: 19. Januar 2024
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Lieber Edwin – mit Deinen schönen Beschreibungen und Bebilderungen des Küsnachter Tobels sowie Schübelweiher/Rumensee/Allmend werde ich die nächsten Hundespaziergänge dort mit frischen Augen geniessen.
LG – Gisella
Hallo Edwin, sehr schön dokumentiert und genau, manchmal ist das Schöne so nah…
wunderschön beschrieben-herzlichen Dank und weiterhin alles Gute und schöne Touren