Ich wandere heute von Guarda nach Scuol um mich für die letzten beiden Etappen der West-Ost-Transversale warmzulaufen. Dabei versuche ich so viel wie möglich Highlights des Unterengadins einzufangen. Dazu gehören nicht nur das hippe Ardez und das ikonische Schloss Tarasp, sondern auch der bezaubernde Lai Nair und die stolze Stahlbrücke von Scuol. Und ganz nebenbei eine wacklige Hängebrücke, die so gar nicht ins aufgepimpte Unterengadin passt.
Wie gerne kehre ich nach Guarda zurück! Zunächst lockt mich die Aussicht auf die feine Rösti mit Liongina wieder ins Crusch Alba zum Lunch. Diesmal nehme ich mir mehr Zeit für die Bewunderung des Bijou-Dorfs.
Erst dann schlendere ich los auf dem Unterengadiner Jakobsweg. Bos-cha heisst das nächste Kleinod, wo ich gerne den Asphalt verlasse und zur höher verlaufenden Via Engiadina hochsteige. Das Wetter ist herrlich, ein kühles Lüftchen durchströmt das Tal, eine Wiese voller Herbstzeitlosen verweist mich auf den heutigen ersten Septembertag. Viel blüht nicht mehr, auch die Wiesen sind gemäht. Bald werden die Kühe wieder ins Tal kommen und die kühleren Nächte werden die Lärchen gelb verfärben – der Herbst kommt unvermeidlich. Doch noch scheint die Sonne kräftig und wärmt. Sie soll bitte auch den frischen Schnee schmelzen, der noch auf dem Piz Lischana liegt, den ich morgen besuchen will.
Bald ist die Höhe über Ardez erreicht, in das ich nun hinuntersteige, um die Talseite zu wechseln. Das Dorf wirkt sehr verlassen. Die Zürcher Kultur-Schickeria hat einiges geleistet um die wertvolle Bausubstanz zu erhalten. Dabei hat das Dorf allerdings viel an Leben verloren und ist zum Freizeitmuseum mit (geschlossenen) Galerien verkommen. Zum Glück ist die kleinere Bäckerei offen, sie offeriert – wenn wunderts – feine französische Patisserie. Dem Zitronentörtchen, das mich anlacht, kann ich nicht widerstehen. Sehr fein!
Nach dieser Leckerei tauche ich in den herrlich nach Nadeln duftenden Wald unterhalb der kunstvoll in den Hang gebauten Kantonsstrasse ein. Der Pfad führt mich in das steile untere Teil des Tals. Die Dörfer zwischen Susch und Scuol liegen nämlich alle auf Sonnenterrassen in unterer bis mittlerer Talhöhe, der Inn fliesst ganz einsam durch die Talenge. Plötzlich taucht da diese Hängebrücke vor mir auf. Das schmale Ungetüm gehört nicht zur neuesten Generation – aber das macht’s spannend! Das Traversieren erfordert schon ein kleines bisschen Nerven – es wackelt zünftig, kreuzen wäre schwierig. Die Brücke namens Punt Veidra scheint nicht viel Besuch zu haben (sie soll aber ersetzt werden, wie ich am nächsten Abend von einem Einheimischen höre).
Der Pfad führt nun steil wieder hinauf und stösst auf den Höhenwanderweg der schattigen Talseite. Hier laufe ich bald wieder auf einem Fahrsträsschen, das mich durch Wald und über Wiesen, an verschiedenen sorgfältig renovierten Häusern vorbei nach Valatscha und später nach Fontana führt. Das „Fontana“ so heisst, sehe ich erst auf der Karte. Denn das dominante Wahrzeichen und der Namensgeber, der hier alles bestimmt, ist hier das Schloss Tarasp. Die stolze Burg sitzt wie ein Adlerhorst über seine Vasallenweiler. Ein schönes Bild! Wie gerne erinnere ich mich an die spezielle Führung, die ich dort vor einigen Monaten erleben durfte. Der Senter Künstler Not Vital besitzt die Burg seit einigen Jahren und hat sie zu einer Attraktion gemacht. Die Kunstsammlung ist einzigartig, ein must go.
Während ich die letzte Steigung des Tages zum Lai Nair unter die Füsse nehme, bedeckt sich der Himmel zunehmend mit Wolken. Sie werfen spannende Schatten auf die Umgebung – faszinierend! Im kleinen See am Fuss des Schlosses schimmert die riesige Metallkugel von Not Vital. Lustig – aber nicht so schön, wie sich wenig später die Wolken im Lai Nair spiegeln!
Dieses grossartige Hochmoor habe ich im Ende Mai erstmals gesehen und ich wusste gleich, dass ich hierhin zurückkommen musste. Da es inzwischen schon nach Fünf ist, sind die meisten Besucher schon weg. Die schöne Bank am Seelein ist frei und so komme ich zu einer andächtigen Genusspause. Liongina und Zitronentörtchen sind längst verdaut, die Qual der Wahl zwischen Biberli und Knosper gewinnt der Letztere. Es ist ein guter Moment, in dieser Stille das Privileg des Lebens und Wanderns in der Schweiz zu huldigen. So schön!
Der Weg führt mich nun hinunter zum Apéro ins Beizli von Avrona. Danach steige ich durch den Wald zum etwas moribunden Vulpera ab (ein Elend, wie diese verlassenen Hotels und Sportanlagen vor sich hin vegetieren). Wenig später stehe ich auf der hohen, berühmten Stahlbrücke von Scuol. Nun ist es nicht mehr weit zu meinem „Basislager“ im Hotel Belvair, wo ich mir bald darauf im „Bogn Engiadina“ die Füsse kühle und die Muskeln entspanne.
Tourdatum: 1. September 2023
Sehr schön beschrieben, was auch ich häufig empfinde, wenn ich dort laufe. Bin sehr gespannt auf Deinen Bericht zum Piz Lischana! Leider haben Rüfenabgänge ihre Spuren hinterlassen. Auf bald!
Danke für den wunderbaren Tourenbericht! Auf viele weitere…