Die letzte Etappe meiner West-Ost-Transversale führt von S-charl ins Münstertal nach Lü. Damit die leichte Tour nicht zu kurz wird, reichere ich sie mit einem Abstecher ins Costainatal zur Fuorcla Sassalba an. Dort überrascht mich eines der fotogensten Seelein, das ich je gesehen habe. Ein Tag voller Emotionen.
Es ist frisch, als ich um 8.15 in S-charl dem Postauto entsteige. Zum Glück habe ich meine Soft-Shell-Jacke eingepackt, das herrliche Wetter hätte mich fast davon abgehalten. Ich schüttle mich, um warm zu bekommen und folge dann dem Alpweg ins Val S-charl. Die Wärme kommt schnell, aber nicht nur von der Bewegung, sondern auch von der Freude über die rund 500 Schafe, die sich mir wie eine Lawine nähern. Sie drängen sich durch die immer enger werdenden Seitengatter am Wegrand. Ich hüpfe auf einen grossen Stein, um das Spektakel aus nächster Nähe, aber sicherer Höhe zu erleben. Cool.
Danach wird es wieder still und ich setze meinen Weg durch das schmale, später immer breiter werdende Tal fort. Bald kommt die Sonne hinter den Bergen hervor, die Jacke verschwindet für den Rest des Tages im Rucksack. Der Bach führt viel Wasser, das hört sich gut an in der Stille des noch jungen Tages. Die ersten Kilometer über das Kiessträsschen sind gut zum Einlaufen, trotzdem freue ich mich, als bei Punkt 2009 der Wanderweg abzweigt.
Von nun an laufe ich auf der östlichen Talseite, der (Biker-)weg bleibt westlich. Im Aufstieg zur Tamangut Dadura kommen mir zwei Jäger entgegen. Stolz präsentieren sie ihre Beute, eine stattliche Hirschkuh. Es ist heute der erste Tag der Bündner Jagdsaison, die Wirtin im Hotel hat mich gewarnt. Aber diese beiden Jäger schiessen heute nichts mehr, besonders nicht irrtümlicherweise ahnungslose Wanderer.
Bei der Hütte weist mich eine Tafel darauf hin, dass der nun folgende Pfad durch die God Tamangur durch einen der ältesten, geschützten Wälder dieser Gegend führt. Knorrige, jahrhundertealte Arven leben hier bis auf fast 2400m Höhe! Es seien die einzigen Bäüme, die die Kälte und die kurze Vegetationszeit aushalten. Ich bin kein Botaniker, aber das ist ein ganz schönes Stückchen Bergwelt. Überhaupt ist dieses ganze Tal eine einzige positive Überraschung. Die Weite, das Friedvolle, einfach schön. Es erinnert mich an das Val Mora und damit an den Anfang der Expedition Ost-West-Transversale vor über 5 Jahren. Ein schönes Gefühl, etwa so wie „nach Hause kommen“.
Als ich den Wald verlasse, um die Alpweiden zu den Hütten der Alp Astras zu queren, pfeifen die Murmeltiere im Konzert. Fett und zahlreich! Es ist September, die Jungs sind wohl bald bereit für den Winterschlaf. Bei den Hütten vermute ich eine Besenbeiz, aber da ist nichts zu wollen. Der Weg führt um sie herum. Das Fahrsträsschen endet übrigens hier, das ist schlecht für die Biker, aber gut für mich. Durch offenes Gelände führt der Weg nun wenig steigend auf den Costainas Pass – ich bin zurück im Münstertal! Aber nein, noch nicht richtig, das spare ich mir noch auf für die Fuorcla Sassalba. Das ist ein rund 300 Hm höher, östlich gelegener Pass. Da will ich hin – und dort hat es dann übrigens auch keine Biker mehr.
Der Pfad ist schmal und nicht immer gut sichtbar, er führt mich zu immer kahleren Flanken und schliesslich, nach einer kurzen, kräftigen Schlusssteigung, auf den Pass. Und da kommt der grosse Wow-Moment: Natürlich sind da zuerst der stolze Ortler und seine Kumpanen, die mich mit ihren mächtigen Gletschern und weissen Spitzen begrüssen. Aber da ist auch ein Seelein vor meiner Nase, das schöner nicht sein könnte. Ich fotografiere es ein Dutzend Mal von allen Seiten, die drei besten Sujets seht ihr unten.
Und dann setze ich mich hin – und weine. Die Tränen fliessen mir einfach hinunter, ich kann sie nicht halten. Freude, Erleichterung, Erinnerungen, der schöne Tag, die Sonne, der See? Ich weiss es nicht genau. Es ist wohl dieses tiefberührende Gefühl, dieses Projekt von Ost nach West und von West nach Ost nach rund siebzig Wandertagen in sechs Sommern beenden zu dürfen. Gesund, ohne gröbere Ausfälle, immer noch gleich motiviert wie am 25. Juni 2018. Und dankbar. Ich bin zutiefst ergriffen über diesen Gefühlsausbruch.
In dieser euphorischen Stimmung mache ich mich an den Abstieg nach Lü. Zunächst über den schmalen Pfad mit Blick übers Tal zum Lai da Rims, bald wieder über ein Fahrsträsschen. In Lü steuere ich auf den Hirschen zu, wo „Mamma Lü’s Spaghetti“ angepriesen werden. Die Portion schlinge ich genau so begeistert hinunter wie ich das Glas Rotwein geniesse, das ich mir zur Feier des Tages gönne. Danach schlendere ich zum kleinen Postbus, der mich auf den Weg nach Hause bringen soll. Das fällt mir dann aber so schwer, dass ich bei der Brücke in Fuldera wieder aussteige, um nochmals eine Stunde dem Bach entlang und über tiefgrüne Wiesen nach Tschierv laufen zu können. Mit dieser schönen Zugabe bin ich dann mehr als zufrieden, als ich den übernächsten Bus zurück über den Ofenpass nach Zernez besteige.
Datum: 2. September 2023
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Ein schönes Fleckchen Erde! Und Kompliment für Dein schriftstellerisches Talent. Ich lese immer gerne mit.
Schade, Edwin, dass ich nicht dabei war – wie bei der allerersten Etappe 2018!
Dank je Edwin, gewéldig om steeds je práchtige wandeltochten te volgen met de mooie foto’s !!
Fijn dat je er zelf ook zo van geniet !!!!
Lieve groeten, ied en Rob
Hartelijk bedankt en beste groeten!
Hoi Edwin,
Deine Wanderreportagen werden immer schöner.
Vielen Dank.
Besonders gut fand ich, dass Du bei einem Deiner letzten Wanderblogs auch mal auf den Fotos mit drauf warst.
Das ist für die räumliche Vorstellung einer Tour immer von Vorteil, wenn Wanderer mit dabei sind – wobei ein Rucksack auch schon hilfreich ist.
Jedenfalls folge ich begeistert Deinen Wanderungen.
Ich kann Dir die Tour von Müstair mit dem Postauto auf den Pass Umbrail empfehlen, anschliessend hoch auf Piz Umbrail und runter am Lai da Rims vorbei nach Valchava.
Am nächsten Tag ab Tschierv eine Rundtour zum Lai da Chazfora, über den Grat und auf anderem Weg nach Tschierv zurück.
Liebe Berggrüss
Britta
Liebe Britta
Vielen Dank! Die Tour zum Piz Umbrail war die 2. Etappe der Ost-West-Transversale …. https://www.edwinwandert.com/2020/08/ueber-den-piz-umbrail-zum-lai-da-rims/
Der Lai da Chazfora wird bestimmt noch folgen!
LG Edwin
Gratulation lieber Edwin – für den Schluss hast Du Dir wirklich eine ganz schöne Ecke ausgesucht. Ich bin im Sommer vom Ofenpass über den Costainas nach Scoul gefahren. Es war einzigartig und ich versichere Dir, ich nehme höchste Rücksicht auf die Wanderer :-). Ich wünsche Dir gute Erholung und alles Gute.
Thuri