Die Hintertür ins Unterengadin

Von der Bielerhöhe führt eine vergleichsweise einfache Alpinwander-Route hinüber ins Unterengadin. Die Wanderung führt entlang des Ochsentals zur Wiesbadenerhütte, durch wildes Gelände über den Vermuntgletscher zum gleichnamigen Pass und hinunter, am bröckelnden Piz Buin vorbei, zur Tuoi-Hütte. Danach kommt es zum gemütlichen Auslaufen bis nach Guarda.

Ich schlief überraschend gut in der Madlenenhütte. Dennoch bin ich um 6.00 wach, geduscht, angezogen und bereit zum Loslaufen. Frühstück gibt es leider erst am 7.00. Doch da passt mich Wirtin Christine beim Ausgang ab und insistiert: „Du isst zuerst etwas“! Dagegen habe ich natürlich nichts einzuwenden und so komme ich zu einem Privatfrühstück mit feinem Kaffee und ofenfrischen Semmeln. Ein guter Start in den Tag!

Kurz danach zurre ich den Rucksack fest und lege los. Zuerst hoch zum Staudamm, dann rund um den Silvrettasee zum Ostufer, von wo aus ein Alpsträsschen ins Ochsental führt. Ich freue mich über die ersten Sonnenstrahlen, die sanft über die grimmigen Felszacken streichen und ihnen das Bedrohliche nehmen. Was Tageszeiten doch ausmachen!

Bald biege ich in das Ochsental ein, der stolze Piz Buin und das Silvrettahorn tauchen vor mir auf. Beide mit üppiger – oder zumindest noch fast üppiger – Gletscherzier eingekleidet. Zum Anbeissen schön! Das Zusammenspiel des Panoramas mit dem rauschenden, mäandernden Bach ist grandios – ich bleibe immer wieder stehen, um ein noch besseres Foto zu machen. So kommt man natürlich nicht vorwärts, aber ich habe ja Zeit.

Ochsental mit Piz Buin und Piz Buin Pitschen – in der Bildmitte die Vermuntlücke

Dann setzt eine zackige Steigung zur Wiesbadnerhütte ein, und da will man lieber – zulasten der Fotografierkadenz – im Rhythmus bleiben. So stehe ich bald vor der grossen Hütte, wo die strikte Frühstückszeit gerade beendet ist und die Massen sich gleichzeitig auf den Weg machen – aber alle nach unten! Keiner folgt mir in Richtung des in der Sonne glitzernden Gletschers, obwohl die Route zwar nicht markiert, aber einladend auf der Wandertafel aufgeführt ist („Vermuntpass 1 1/4 Std, Tuoihütte 2 Std.“). Naja, das Thema hatten wir gestern schon einmal

Die grosse Wiesbadnerhütte vor der prächtigen Silvretta-Kulisse
Kleiner geworden, aber immer noch stolz und mächtig – der Ochsentalergletscher am Fuss des Silvrettahorns

Mich kümmert’s nicht, ich peile gerne auf den anfangs guten, dann zunehmend schwächeren Pfadspuren auf den Gletscher zu. Die Richtung ist klar – einfach der Nase folgend zum Gletscher und zur dahinterliegenden Lücke. Bald erreiche ich den grossflächigen Eispanzer, der zwar sicher auch kleiner geworden ist, aber hier wohl noch einige Jahrzehnte ausharren wird. Spalten weist er kaum auf, deshalb ist er problemlos begehbar. Nur die Spikes ziehe ich über die Schuhe, sonst wird das trotz des bescheidenen Steigungswinkels ein Rutschfestival.

Durch den Kies und die Wasserläufe zum Vermunt-Gletscher wühlen

Gletscherbegehungen machen immer Spass, solange sie nicht zu lange dauern. Das Knirschen des spröden Eises unter den Füssen, die eingeschmolzenen Steine, das Rieseln des Schmelzwassers, das im Verlauf des Tages zu einem Bach anschwellen wird. I love it! Nach einer guten Viertelstunde ist der Spass vorbei und einen kurzen Schlussspurt über Geröll später stehe ich in der Lücke und klopfe vergnügt auf das Grenzschild: „Ciao Schwizz, ich bin wieder dihei“!

Piz Jeramias und Dreiländerspitz (Vorarlberg-Tirol-Schweiz)
Das Ochsental und der Silvrettasee im Rückspiegel

Das ist natürlich nur symbolisch, denn zuhause will man hier trotz aller Schönheit nicht wirklich sein. Aus der Seitenwand des Piz Buins donnern nämlich schon am frühen Morgen immer wieder Steine in das Couloir, in das ich jetzt hinuntersteige. Das ist übrigens auf den ersten 100 Metern auch nicht ganz einfach. Zunächst hilft zwar eine Spur durch das grobe Geröll, dann wird es blockig. Ich bewege mich zum östlichen Rand des Gletscherchens hin und steige über das Eis ab. Das geht einfacher und wesentlicher schneller als durch die Blöcke (Schwierigkeit: ganz kurz T5, dann wieder T4+). Aber bitte wirklich östlich bleiben…der Steinschlag lässt grüssen! Bald flacht das Eis ab und es läuft sich leichter. Es folgt ein einfacher Abstieg durch Geröll und über ein Schneefeld zum Gletscherseeli, wo ich mir eine kurze Pause gönne um die eindrückliche Wand des Piz Buins nochmals zu studieren. Von dort an gibt es auch wieder einen guten Pfad, der steil aber wenig schwierig zur Tuoihütte hinunter führt, wo „die Zivilisation“ wieder erreicht wird.

Bitte schön rechts halten. Die Wand des Piz Buin ist brüchig….
Der Blick zurück zum Vermuntpass – nur das oberste Stück ist etwas anspruchsvoll im Abstieg

Die Tuoihütte musste kürzlich (und noch immer) ein bisschen leiden, wie mir der Hüttenwart erzählt. Der drohende Abbruch von über 700’000 Kubikmeter Fels führten zur Schliessung der Hütte im letzten Winter. Jetzt muss (oder müsste) man einen kleinen Umweg einschlagen, um sicher von der Hütte weg zu kommen. Sie liegt genau am Rand der berechneten Gefahrenzone. Aber heute ist alles ruhig und ich beisse auf der Terrasse entspannt in ein Stück Nusstorte, hinunterspühlend mit viel Rivella.

Tuoi-Hütte mit Trottiservice

Einen kurzen Moment überlege ich mir, ob ich eines der Trottis mieten soll, die hier für die Talabfahrt über das Alpsträsschen zur Verfügung stehen. Doch das Tal ist so schön und das Wetter noch so stabil, dass ich mich für die Langsamvariante entscheide. Es ist zwar ein langer Gwaggel (1.5-2 Std.) nach Guarda, aber ich bereue es keinen Moment. Ich überlege mir, was das für eine tolle Tour wäre, einfach mal mit dem E-Bike zu Kaffee und Kuchen hinauf in die Hütte zu fahren.

Ein grosszügiges Tal mit einem klaren Herrscher – der Piz Buin
Kratzdisteln mit kleinen Besuchern
Das Unterengadin — Blick nach Susch oberhalb von Guarda

Bestens gelaunt erreiche ich Guarda, wo ich mich über die prächtigen Häuser des Schellenursli-Dorfes freue. In der liebevollen Usteria Crusch Alba lasse ich mich mit einer perfekten Rösti mit Liongia (hauseigene Wurst-Spezialität) und Salat verwöhnen. Als ich schliesslich mit dem Zug wieder nach Klosters zurückgondle, freue ich mich schon auf die Fortsetzung der Transversale ab Guarda.

Guarda —- eigentlich müsste ich 20 Fotos davon posten….
Guarda

Tourdatum: 12. August 2023

Kartenausschnitt Vermuntpass

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

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