Die Sibe Hängste (sieben Hengste) sind ein geologisches Phänomen. Die Talbewohner erklärten sich die Entstehung des wundersamen Kalkriegels mit seinen zahlreichen Höhlen und Ritzen deshalb mit einer Sage. Wir durch- und überschreiten das unwegsame Gebiet und finden uns dabei in einer märchenhaften Landschaft wieder.
In Habkern erahnt man noch nichts von diesem Meisterwerk der Natur, das wir heute entdecken. Unser Weg führt zunächst über Wiesen zum Waldrand oberhalb des Dorfes, dahinter erkennt man noch nichts. Sobald wir etwas Höhe erreichen, strecken hingegen in unserem Rücken Eiger, Mönch und Jungfrau ihre Köpfe hinter dem Brienzergrat hervor. Eine Augenweide, jedes Mal wieder.
Die blumenstrotzenden Weiden werden nun von intensiv duftenden Nadelbäumen abgelöst. Wir streifen durch den Wald und erreichen bald die Chromatta, eine flache Alp, die wohl einst aus einem verlandeten See entstanden ist. Es folgt eine etwas steilere Rampe, die uns auf das Seefeld führt. So wird das ganze Gebiet genannt, das sich vor den Karrenfelder unterhalb der Sibe Hängste ausbreitet. Es ist ein Traum: Wir wähnen uns in der Taiga: offener Wald, moorige Böden, coupiertes Gelände. Ein markierter Weg führt uns noch bis zum Tropfloch hoch, ein unscheinbarer Zugang zu einem neun Kilometer langen Höhlensystem, das hier oben seinen Anfang nimmt.
Kurz nach dem Tropfloch endet der Pfad. Das Gelände lässt sich jedoch ziemlich problemlos durchschreiten, nur vor Löchern und Karrenspalten muss man auf der Hut sein. Vergnügt suchen wir uns im Auf und Ab einen Weg zum Fuss des Hengsten-Grats, dort steigen wir durch ein Geröllfeld zum östlichsten, namenlosen Gipfelchen (Pt. 1828) auf. Doch nicht ohne immer wieder anzuhalten, um noch mehr Fotos zu machen. Eigentlich würde man hier Feen und Kobolde erwarten.
Auf dem Grat findet sich nun eine akzeptable Pfadspur. Das Gipfenhüpfen kann seinen Gang nehmen. Einmal grasig, dann wieder karstig, nur selten etwas ausgesetzt. Im Norden fällt das Gelände sehr steil ab, im Süden reizt die Sicht auf das wilde Seefeld, dahinter glänzen die weissen Viertausender. Einfach grossartig.
Doch dann verschlechtert sich die Sicht abrupt. Im Zuge einer über dem Jura vorbeigezogenen Gewitterfront hüllen sich die umliegenden Berge in Wolken ein, vom Wind durch die Küche gejagt. Die Szenerie wechselt im Sekundentakt. Spannend!
Begeistert von Landschaft und Wetterkapriolen erklimmen wir den letzten Hengst, die Schiebe (Pt. 1955). Dann richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf unser nächstes Ziel, das Gemmenalphorn.
Wir steigen weglos zur Alp Oberberg ab und treffen unterwegs auf eine junge Bäuerin. Sie sucht eine ihrer Kühe, die sich in diesem unwirtlichen Gebiet verirrt hat. Wir können helfen und weisen ihr den Weg zur Ausreisserin.
Nach der Alp treffen wir wieder auf das markierte Wanderwegnetz und nehmen die nächste Steigung zum Gemmenalphorn unter die Füsse. Das Wetter hat sich einstweilen wieder beruhigt, die Wolken sind weg und die Sonne brennt auf unsere Mützen. Mit Begeisterung blicken wir nochmals auf die Hängste zurück. Wir kommen wieder!
Kurz vor dem Gipfel treffen wir auf eine erste Steinbockdame. Diese Tiere sind hier fast nicht zu verfehlen. Dieses Exemplar posiert allerdings nicht gerne vor der Kamera, das werden später andere tun. So erreichen wir zur Lunchpause das Dach des Tages.
Die Aussicht ist grandios. Das ganze Berner Oberland präsentiert sich von der besten Seite. Das ruft nach einer langen Pause. Doch nachdem wir gerade unsere Schuhe ausgezogen haben, konsultiere ich den Wetterradar. Wann kommt der in Aussicht gestellte Regen? Um 16.00 Uhr? Oder doch erst oder 17.00 Uhr? Aber nein: 14.00 Uhr sagt die App – dunkelrot präsentiert sich eine nahende Gewitterfront auf meinem Schirm. Oh Schreck, das heisst aufbrechen und Gas geben, es ist 13.15… Gewitter auf einem felsigen Grat ist nicht das Gescheiteste.
Zügig folgen wir dem Gratweg, zuerst hinunter, dann über den Burgfeldstand wieder hinauf. Nicht ohne die Gegend zu geniessen, aber mit Respekt ins Simmental schauend, von wo aus sich gewaltige Wolkentürme in Richtung Thunersee bewegen. Schon hüllen uns die ersten Wolkenfetzen wieder ein, und böiger Wind zieht auf.
Natürlich halten wir noch kurz ein, um die grosse Steinbockkolonie mit den vielen Jungtieren abzulichten – doch dann joggen wir. Es stürmt, es tropft. Die Front erwischt uns wenige Meter vor dem Berghotel auf dem Niederhorn. Kaum sind wir drinnen, prassen die Wassermassen wolkenbruchartig herunter.
Wir prosten uns indessen zu und beissen in ein Stück Kuchen – und schmunzeln über das bescheidene Glück, noch (fast) trocken zu sein. Und ja – als wir 45 Minuten später zur Gondel hinüberlaufen scheint die Sonne bereits wieder.
Tourdatum: 6. Juli 2021
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben (zeigt aufgrund der Karren zuviel Höhenmeter an. Es sind ca. 1600)