Das Valsorey ist wohl eines der meist entlegenen und einsamsten Täler der Schweiz. Dennoch gibt es dort zwei SAC-Hütten, eine für die Grand Combin-Bergsteiger, eine für den Mont Vélan. Als 18-jähriger wirkte ich als Hüttenwart-Gehilfe in der Cabane Valsorey mit, ergo muss die Hütte auf meiner Transversale besucht werden. Es wird ein langer Tag auf dem Weg von Bourg-Saint-Pierre zum Col de Mille.
Kurz nach Sieben beende ich mein Frühstück im Hotel und watschle noch etwas steif der Passtrasse entlang zum im Wald versteckten Eingang des Valsorey am oberen Dorfrand von Bourg-Saint-Pierre. Es ist still, die Sonne bleibt noch lange hinter dem Grand Combin verborgen. Ich blende den Sommer 1981 ein, als mich Hüttenwart Marc mit dem Heli – beladen mit Brennholz und Proviant – von hier zur Hütte mitfliegen liess.
Das Valsorey ist wild und einsam, eigentlich steigen nur wenige Bergsteiger zu den Hütten hoch. Die Rückseite des Grand Combin ist aufgrund des auftauenden Permafrost zu einem Steinschlaggebiet geworden. Immer wieder werde ich das dumpfe Donnern herunterstürzender Brocken hören. Aber die Pfade zu den Hütten sind sicher und gepflegt, die weiss-rot-weissen Markierungen frisch, wir sind ja schliesslich in der Schweiz! Etwa auf der Höhe von 2000m wurde sogar ein Zusatzweg am linken Bachufer angelegt, damit die Wanderer bei starkem Regen einem Sturzbach ausweichen können. Was für ein Luxus!
Der Aufstieg erfolgt über mehrere Talstufen, das Gelände wird sukzessive steiniger und alpiner, das kräftige Rauschen des vollen Gletscherbachs füllt das Tal mit Leben. Nach gut zwei Stunden erreiche ich auf rund 2500m Höhe die grosse, flache Weide im Talkessel, über der die Valsorey-Hütte auf einem Felskegel unter dem Grand Combin thront. Die Sonne erscheint – das ruft nach Pause und eincremen.
Ein weiteres prägendes Erlebnis läuft wie ein Film vor meinen Augen ab. Auf dieser Wiese erlitt seinerzeit ein Mann in meinem heutigen Alter eine Lungenembolie. Sein Sohn rief mich herbei, ich rannte von der Hütte hinunter. Der per Funk gerufene Rega-Arzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Ich sehe noch heute den schweren Sack unter dem wegfliegenden Heli schweben.
Die 500Hm Schlusssteigung zur Hütte hat es in sich. Am Ende müssen gar die Hände kurz zu Hilfe genommen werden. Und auf über 3000m Höhe wird die Luft merklich dünner. Oben angekommen strahle ich, es scheint fast alles unverändert! Die kleine Hütte ist zwar durch einen Anbau doppelt so gross geworden, hat aber seinen ursprünglichen Charakter bewahrt. Ein kleines Solarpanel spendet der Hütte sogar Strom, die Petrollampen sind nicht mehr da.
Ich bin berührt von den vielen zur neuen Frische erwachenden Erinnerungen und teile sie mit Gardienne Isabelle, die mir Penne mit Pesto zubereitet. Denn der Tag hat erst begonnen, auch wenn schon 1500 Höhenmeter auf dem Ticker stehen. Der Col de Mille ist gemäss Wanderschild noch mehr als sechs Stunden entfernt. Der Weg dahin führt über einen spektakulären „neuen“ Panoramaweg (es gab ihn 1981 noch nicht), der entlang den steilen Talflanken nach Norden führt.
Aber bevor ich davon berichte, muss ich kurz vom Mont Vélan schwärmen. Dieser Riese mit seinem dicken Eishut, gut 3800m hoch, beherrscht das Valsorey alleine. Frisch verschneit wie heute sieht er zum Anbeissen aus. Auf seiner westlichen Flanke fliesst der schlanke Valsorey-Gletscher hinunter, seine Séracs sind ein Eyecatcher für sich. In der Verlängerung des Talausgangs stolziert zwar der allgegenwärtige Mont Blanc, aber hier im Valsorey kann er im Beauty-Contest gegen den Mont Vélan nichts ausrichten.
Der Panoramaweg präsentiert sich als spannende, aber schweisstreibende Knacknuss. Es ist ein stetiges Auf und Ab in den wilden Felsflanken, auch wenn nur wenig ausgesetzt. Er traversiert ein gigantisches Trümmerfeld, das Jonglierungskünste erfordert. Aus meiner Sicht müsste das blau-weiss-blau markiert sein. Nach einem knackigen Abstieg folgt eine letzte, zweistufige 200Hm-Gegensteigung. Das kostet Kräfte. Zu meinem Erstaunen muss ich Hin und Wieder anhalten, um den Puls sinken zu lassen.
Doch mit der Erklimmung der Pointe de Penne ist der Krampf beendet und ein weiterer traumhafter Aussichtspunkt erreicht. Nach einer genussvollen 360-Grad-Rundblick-Pause winkt ein aussichtsreiches Gratdownhillen nach Challand d‘en Haut, wo wieder Alpwirtschaft betrieben wird.
Ich lasse das Valsorey und den Mont Vélan jetzt definitiv hinter mir und cruise hoch über dem weiten Val d‘Entremont – und widme mich voll der Bewunderung des zackigen Mont Blanc-Massivs, womit ich mich gestern schon so verwöhnt habe.
Ich habe genug Zeit dafür, denn die Strecke zum Col de Mille ist lang. Ich peile zunächst die Einmündung zur „Route 6“ an, dann folgen noch viele Kilometer Hangtraversierung, sanft aber kontinuierlich 500Hm steigend, drehend von Taleinschnitt zu Taleinschnitt. Die Sonne brennt, und obwohl auch der Blick zu Dents du Midi und Genfersee die Sinne anspricht, werden die Beine langsam müde.
So bin ich nicht ganz unglücklich, als ich auf der Vouardette die Hütte auf dem Col de Mille erblicke. Die letzte, gute halbe Stunde läuft sich leicht. Bald mische ich auf der Terrasse der neugebauten Cabane de Mille aus Citro und Bier ein Panache. Und dann gleich noch eins.
Die Beine bekommen hochgelagert die gewünschte Erholung – vom Liegestuhl aus betrachte ich die Berner Alpenkette, den Mont Vélan und das Mont Blanc-Massiv bis zur friedvollen Abendröte. Was für ein Privileg! Kurz nach 21.00 krieche ich in meine Koje – in Vorfreude auf morgen.
Tourdatum: 4. September 2020
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
ÖV und Notabene: Die Tour ist sehr lang. Natürlich kann man von Challand d’en Haut direkt nach Bourg-Saint-Pierre absteigen (Postauto). Das spart zwei Stunden und 500Hm.
Wunderschön! Ich war mal in der Cabane Valsorey und Cabane Velan auf Skitour. Du hast ja bestes Wetter erwischt. Beste Grüsse. Oliver