Mont Rogneux oder Corbassière? Ich weiss bis jetzt nicht, was eindrücklicher war – der nördlichste Gipfel des Grand Combin-Massivs oder sein monströser Gletscher davor. Beide machen die letzte Etappe der Ost-West-Transversale zu einem Fest. Einfach nur traumhaft – sorry für die Superlativen, aber überzeugt Euch selbst…
Kurz nach Sieben verabschiede ich mich von der Crew der Cabane de Mille und peile den Westgrat des Mont Rogneux an. Der nördlichste Gipfel des Grand Combin-Massivs ist durch eine blau-weiss-blau markierte Alpinroute erschlossen. Zu Beginn läuft es sich leicht auf einem nur mässig steigenden Pfad. Es bleibt viel Zeit, das inzwischen vertraut gewordene Mont Blanc-Massiv nochmals im Licht der aufgehenden Sonne zu geniessen.
Auf 2800m müssen die Walliser den Architekten des Pfads ausgewechselt haben, oder das Geld ging aus. Der Pfad geht direkter, der Steigwinkel verdoppelt sich schlagartig, der Vorgipfel wird mit einem deutlich höheren Pulsschlag erklommen. Dafür erwartet mich hier die Sonne – und der erste Blick auf den Petit Combin. Foto folgt, doch bitte noch etwas warten, denn jetzt gilt volle Konzentration über die Blöcke und die verschneit-vereiste Nordseite des Gipfelaufbaus.
Dann ist es soweit – ich stehe auf einem 3000er, der viel mehr bietet, als ich erwartet hatte. Ein Traumpanorama. Zum Mont Blanc-Massiv im Westen kommt im Norden die Berner Alpenkette, im Süden die weissen Gipfel des Grand Combin-Massivs und im Osten unter anderem der Mont Blanc de Cheilon – und damit der Reminder an das näherrückende Abschliessen der Transversale. Ich bin für einen Moment ganz ergriffen. Dann warm anziehen, denn um kurz nach Acht ist es trotz strahlend blauem Himmel noch ziemlich kalt für verschwitzte Gipfelstürmer.
Ich verweile lange – wohl wissend, dass das Ziel noch weit weg ist und der Bus in Mauvoisin nicht wartet. Doch was solls! Es ist ein grossartiger Moment des Genusses auf diesem Aussichtspunkt. Schliesslich überliste ich meine Bleiblust mit der Bastelei einer kleinen Steinskulptur, dann breche ich auf.
Der Abstieg vom Mont Rogneux ist leichter als der Aufstieg und könnte durchaus auch rot-weiss markiert sein. Die Orientierung bietet keine Probleme – einfach dem Ostgrat nach, bis man auf die Verzweigung stösst, an der beide Richtungen auf die „Tour des Lacs“ hinweisen. Damit gemeint ist eine Rundwanderung, die von der Cabane Brunet in den Vorgarten des Petit Combin führt, der mehrere grün-schuttige Tälchen und ein halbes Dutzend Seelein umfasst.
Ich pausiere kurz am Goli d’Agnet, um ein paar Wasser/Berg-Fotos zu machen. Nach einer Beurteilung des Geländes – es läuft sich überall leicht durch, entschliesse ich mich zu einer Direttissima hinunter zur Grand Charmotane.
Das gelingt auch im steileren Gelände perfekt – nur den vielen Murmeltieren passt das gar nicht. Es herrscht grosse Aufregung über mein Erscheinen, auch gütiges Zurufen trägt nicht zur Beruhigung bei. Janu, beim Stall „Nishliri“ mache ich dasselbe gleich nochmals und steige direkt zum Talboden ab, von wo aus Spuren oberhalb der 2300m-Höhenkurve schnurstracks zum Wanderweg des Col des Avouillons führen.
Damit ist der spannende Alpinwanderteil des Tages abgeschlossen, ab jetzt ist „Täfeli folgen“ auf offiziellen Bergwegen (rot-weiss, T3) angesagt. Auch mit der wundersamen Einsamkeit ist es vorbei, hier bin ich nicht mehr alleine unterwegs.
Die Gegensteigung zur Lücke südlich des Becca de Sery ist heftig, aber kurz. Wenige Meter vor dem Pass stelle ich mich voller Vorfreude auf das ein, was jetzt kommen muss: Der Blick auf den fünfgrössten Gletscher der Schweiz, le Glacier de Corbassière. Et voilà:
Das ist nun wirklich grosses Kino! Ich jogge freudig den Pfad hinunter ins Tal, wo die neue Hängebrücke (2014) über die abgeschliffenen Felsen silbrig glitzert. Ich halte dennoch in fast jeder Kurve ein, um ein noch schöneres Foto von diesem formidablen Eisstrom zu schiessen – und von der grossen Hochzeitstorte dahinter, die nun immer besser sichtbar wird: die komplett vergletscherte Nordflanke des Grand Combin.
Bei der Brücke schlucke ich wie üblich zuerst zweimal leer. Das 190 Meter lange Schwabbeln über dem Abgrund mit dem tosenden Wasser ist nicht mein Ding – ich traue „man-made“ wenig, lieber hangle ich durch eine Wand mit den Fingern am festen Fels. Also – rüber ohne runterschauen! Und leise über sich selber spötteln :-).
Der Wanderweg folgt der riesigen Moräne auf der Ostseite des Gletschers, eine halbe Stunde später erreiche ich die moderne Cabane FXB Panossière. Es ist kurz vor der Essensausgabe, die hier erst strikt um 12.00 beginnt. Der Hüttenmannschaft sei es gegönnt. Die Walliser scheinen das zu wissen, sie treffen kurz nach Mittag in Scharen ein. Dafür habe ich schon den besten Liegestuhlplatz eingenommen. Und der feine Risotto ist das Warten auch wert!
Im Mittelpunkt steht unangefochten der Grand Combin – mein erster Viertausender vor 39 Jahren – er ist einfach eine Wucht. Ein anderes Wort finde ich nicht, seine endlosen Eiswände machen sprachlos. Unvermeidlich sind auch die Gedanken an das Leid lieber Freunde, die einen Teil ihrer Familie auf diesem Gewaltsberg verloren haben.
Berührt von diesen Eindrücken trete ich schliesslich das letzte Teilstück der Tour an. Der Pfad folgt noch ein Stück der Moräne, der Eisberg kommt nochmals etwas näher. Dann erwartet mich eine kurze, giftige Steigung zum Col des Otanes – oder sind es nur die etwas müde gewordenen Beine, die nach drei Tagen Schwerarbeit zu streiken drohen?
Auf dem Pass nehme ich schweren Herzens Abschied von der herrlichen Kulisse und wende mich dem steilen Abstieg ins Val de Bagnes zu. Dieser ist anfangs ziemlich ruppig. Blöcke, Schutt, an Felsen befestigte Treppen. Aber bald strahle ich freudig – der blassblaue Lac de Maivoisin tritt ins Bild, dahinter der vertraute Glacier de Giétro mit dem Mont Blanc de Cheilon.
Gut ein Monat ist es erst her, als der letzte Dreitäger hier endete. Das lässt die müden Knie vergessen, die letzten Haarnädelchen ins Tal jogge ich wieder. Kurz vor Drei erreiche ich das Restaurant Mauvoisin, wo die Serviererin den Autor, dem ungehemmt ein paar Freudentränen die Wangen hinunterlaufen, kritisch besorgt mustert, bevor sie ihm Bier und Eiskaffee vor die Nase stellt.
Es ist geschafft: 46 Wandertage, 737 Kilometer und 58’750 Höhenmeter nach dem Start in Müstair schliesst sich meine Kette zwischen dem östlichsten und dem westlichsten Alpengipfel der Schweiz. Sehr schön – und jetzt umgehend mit der Planung beginnen, wie ich wieder ins Münstertal zurückkomme!!
Tourdatum: 5. September 2020
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Edwin: Danke für die fantastischen Berichte und aussergewöhnlich hervorragenden Bilder. Macht einfach Spass für noch mehr…
Wow, was für herrliche Ausblicke konntest Du hier geniessen und dann noch solche Verhältnisse! Super getourt, Edwin.
Bravo pour cette traversée avec des paysages magnifiques ! Je vous ai suivi depuis le Montlac de champex 🙂