Der Hausberg bei der Lenk im Simmental ist ein richtiger Brocken. Seine drei fast gleich hohen Gipfel bilden zusammen einen mächtigen Talriegel. Trotzdem ist es ein Wanderberg, der zwar Kondition erfordert, aber leicht zu erobern ist. Seine Erklimmung aus dem Talboden ist ein höchst abwechslungsreiches Unterfangen, das durch spektakuläre Wildnisse führt. Überzeugt Euch selber!
Meine Skitourenfreunde rümpfen leicht die Nase, wenn ich vom Wildstrubel erzähle. Für sie ist es ein zahmer Rücken, auf dem Weg von der Plaine Morte (den sie per Bahn erreichen) zum Gemmipass. Sie wissen es nicht besser, denn die wilde Nordseite ist die wahre Beauty. Im Sommer, und nicht im Winter.
Vom Restaurant Simmenfälle (Bus) in Oberried führt ein harmlos ansteigender Fahrweg entlang der wilden, jungen Simme durch den Wald zum Rezliberg. Ich würdige die Wassertreppe mit einem anerkennenden Blick, der schattige Morgen gibt jedoch noch keine Bilder her. Es kommt noch zuviel Schöne(re)s.
Auf dem Rezliberg ändert die Szenerie: Ein lieblicher Talkessel, durchkreuzt von zahlreichen Gewässern und luftig bewachsen mit grazilen Föhren. Als Kontrast ragt im Süden eine gewaltige, 700m hohe, bewaldete Steilstflanke in den Himmel, durch die kein Durchkommen scheint. An deren Fuss entspringen die Sieben Brünnen, eine Laune der Natur. Das Schmelzwasser des Rezligletschers sprudelt nach einer unterirdischen Reise mit voller Kraft aus der Wand. Ein eindrückliches Schauspiel!
Nun wartet das Erlebnis durch die Wand – über einen kunstvoll angelegten, zeitweise erheblich ausgesetzten, aber gut gesicherten Pfad. Steil, und höchst abwechslungsreich. Die Höhenmeter schmelzen förmlich dahin, die Zeit fliegt vorbei. Nach einer knappen Stunde stehe ich auf der Kante der Mauer – und blicke fasziniert ins Tal hinunter.
Die Hälfte der fast 2200 Höhenmeter zum Gipfel sind geschafft. Dann wende ich mich freudig überrascht dem lieblichen Flueseeli zu, das sich hier auf dem Plateau vor der nächsten Felswand breitmacht. Ein zauberhaftes, türkisfarbenes Kleinod, das am Nachmittag zahlreiche (Bade-)Gäste und Wildcamper anziehen wird.
Jetzt ist es noch still, ich pausiere kurz und kaue einen Energieriegel. Da setzt sich plötzlich ein hübscher Schmetterling auf meine Hand, bald gesellt sich eine Schwebfliege im Wespenkostüm dazu. Was für ein berührendes Schauspiel!
Nun geht es alpiner weiter. Vor der imposanten Kulisse des Gletscherhorns und des Tierbergsattels stürzt sich Wasser in die Tiefe, das Gelände darum herum weist bereits die unverkennbaren Spuren des Gletscherschliffs auf. Kraftvoll, wild, eine Augenweide! Die Aussicht auf immer neue Geländeeinblicke macht das Weitersteigen neugierig.
Bald zweigt der nicht markierte Pfad zum Wildstrubel von der vielbegangenen Tierbergsattelroute ab (Pt. 2252). Ein kleiner Felsriegel warnt: hier gilt es Ernst. Doch ihn übersteigt man leicht und die Spur ist gut, Steinmännchen weisen den weiteren Weg. Ich verstehe eigentlich nicht, warum die Route zum Gipfel nicht zumindest blau-weiss-blau markiert ist. Offenbar soll sie nicht zum Wandernetz gehören, dabei übersteigt der Schwierigkeitsgrad nur knapp die T3 (Bergtouren), die Hände müssen nur zweimal zupacken.
Auf der nächsten Talstufe angekommen, erblicke ich einerseits mein Gipfelziel am Ende eines endlosen Meeres aus Schutt, Fels und Steinen. Kein bisschen grün, kaum ein Pionierblümchen, aber trotzdem eine ansprechende, wohlziselierte Mondlandschaft. Andererseits geizt die wasserspeiende Zunge des Retzligletschers am unteren Ende der Plaine Morte mit ihren Reizen.
Wenig später erblicke ich auf die Fläche, bald sehe ich ganze Ausmass des gewaltigen Eismeeres. Plaine Morte – tote Fläche? Nein, sie lebt. Der Gletschersee, das freigeschmolzene Eis, kleine Wolken, die ein Schattenspiel auf dem weissen Leintuch vorführen. Und im Hintergrund die ersten grossen Walliser und der Mont Blanc, die dem Spektakel gemächlich zuschauen.
Die Pfadspuren bleiben derweilen wirklich immer eindeutig, nur neblig darf es hier nicht sein, denn alles ist einheitlich grau, grau, grau. Heute ist es aber so klar, dass die Orientierung ein Kinderspiel ist. Auch wenn es steigt, steigt, und steigt. Irgendwann stehe ich auf dem Südwestgrad, es fehlen nur noch 200 Höhenmeter zum Gipfel. Noch etwas durch den Kies spulen, dann nicke ich dem Gipfelkreuz zu und ich finde mich auf einem Kiesplateau in Fussballfeldgrösse wieder.
Die Gipfelgäste könnten unterschiedlicher nicht sein. Die verschwitzt- erschöpften Wanderer aus der Lenk, die Angeseilten aus der Lämmerenhütte (Gletscheraufstieg) und die Gletschertraversierer aus der Wildstrubelhütte. Ein Dutzend Leute, alle hoch zufrieden mit sich selber und fasziniert vom 360-Grad-Panorama.
Ich sitze über eine Stunde auf diesem ach so friedlichen Platz, streiche mir meine Le Parfait-Blevitas und probiere kauend meine Geographiekenntnisse zu perfektionieren. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem hochalpinen Gebiet zwischen Dent Blanche und Grand Combin, das mir auf der Ost-West- Transversale noch fehlt. In zwei Wochen werde ich dort sein, wenn Petrus mich lässt!
Dann schaue ich auf die Uhr, seufze und breche etwas widerwillig zur Rückkehr auf. Mit der gleichen Freude wie morgens durchschreite ich nochmals die Mondlandschaft, den Gletscherschliff, das Flueseeli-Paradies und die spektakuläre Wand zum wonnigen Rezliberg.
Hier sind die Bäche inzwischen von Kids in Badekleidern erobert worden. Ich stärke mich im Garten des kleinen Siebenbrünnen-Beizlis mit Panaché und Nusstorte – und beschliesse noch vor dem Ende der Tour, dass der Wildstrubel-Run zum Evergreen wird – solange ich die Kraft dazu habe. Und danach dann halt mit den Skis… 🙂
Tourdatum: 20. Juli 2020
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Notabene: Wem der Direktaufstieg zu viel ist: Auf dem Rezliberg kann man übernachten (Bergrestaurant Siebenbrünnen) und beim Flueseeli gibt es ein unbewartetes Hüttli, das man ebenfalls zum Schlafen reservieren kann.
Die Wespe ist eine Fliege.
Danke Dani – so lerne ich wieder etwas!