Eigentlich sollte diese Tour nicht stattfinden. Ich wollte das französisch-schweizerische Grenzgebiet zwischen Argentière und Trient auslassen und die OW-Transversale nach dem gestrigen Abstieg vom Lac d‘Emosson gleich in Trient fortsetzen. Zum Glück überlegten wir es uns anders und erlebten eine spannende Alpinwanderung. Besucht wurde der Blockgipfel „Les Grandes Otannes“, hoch über dem Col de Balme, im Vorzimmer der Aiguille du Tour und im Angesicht des Mont Blanc.
Wir schnüren unsere Schuhe vor der Auberge in Trient, überschreiten die kleine Brücke über den Gletscherbach vor dem Haus und befinden uns gleich im Steigmodus. Und wie! Die gewählte Abkürzung überwindet 230 Höhenmeter auf einer Strecke von nur 680m, da ist man gleich wach.
Nach dem 20-minütigen Kraftakt erreichen wir den Normalwanderweg, fortan geht es gemütlicher zu. Im Schatten des wunderbar duftenden Lärchenwalds steigen wir auf die Alp Tseppes, wo sich ein paar Prachtsexemplare dieser kräftigen Eringer-Kühe sonnen.
Etwas weiter oben besichtigen wir leicht verwundert die Resten einer Eisenmine, die hier im Mittelalter betrieben wurde. Ganz schön tollkühn, auf 2000m Erz zu schürfen und dieses dann ins Tal zu bringen! Der Pfad folgt nun der Höhenkurve, und wir geniessen die wunderbare Sicht auf die andere Talseite, wo wir gestern waren. Der Lac d‘Emosson leuchtet blaugrün, und am Horizont grüssen die sieben Spitzen der Dents du Midi.
Wir steigen nun hoch zum Übergang zwischen Croix de Fer und Arolette. Ein steiles Schneefeld sorgt kurz für etwas Stirnrunzeln, erweist sich dann aber als harmlos. Dann sehen wir IHN in seiner ganzen Pracht – den höchsten Berg Europas, den Mont Blanc. Wow!
Auf dem kurzen Abstieg zum Col de Balme bewundere ich den Riesen ausgiebig. Wie er seinem Namen doch gerecht wird – so voller Eis und so weiss!
Bei der Réfuge auf dem Pass herrscht wenig Betrieb. „Grenzverkehr“ auf der Tour de Mont Blanc, die normalerweise soviele Wanderer aus allen Erdteilen anzieht. Der Hype ist dieses Jahr abrupt zum Erliegen gekommen. Es ist allerdings erst Saisonbeginn, aber ob die zuhause gebliebenen Europäer die fehlenden Wanderfreaks aus Amerika und Asien ersetzen können? Walter trinkt Kaffee und ich erledige einige dringende Telefonate. Das gehört an einem normalen Dienstag im Juni dazu. Zum Glück geht das mobil!
Dann steuern wir erwartungsvoll auf den langgezogenen Grat der „Grandes Otannes“ zu. Er beginnt grasig, wird schnell steinig und endet mit Blöcken. Wegspuren gibt es nur im unteren Teil, die Route ist aber eindeutig: auf dem Grat bleiben. Es wird immer steiler, die Hände kommen zum Zug, genussvolle Blockkletterei im I. und II. Grad. Fantastisch, das macht Spass! Nur einmal schlucken wir trocken, als sich ein grosser Stein unter meinen Händen löst und in ein Couloir donnert. Uff, gerade noch gut gegangen.
Wenig später stehen wir auf dem Gipfel der Arena und blicken der Aiguille du Tour mit ihrem weissen Kleid direkt ins Gesicht. Zeit für eine ausgedehnte Pause.
Nun müssen wir noch hinunter kommen. Die Flanken ins anvisierte Tal vor uns sind steiler als erhofft. Da absteigen? Reichen die Spikes? Ich zögere. Doch Walter ist gewohnt zuversichtlich und zeigt auf eine Scharte, von wo aus der Abstieg machbar scheint. Und er hat recht. Mit wenig Mühe steigen wir den Hang hinunter und rutschen bald knieschonend über die riesigen Schneefelder ins Tälchen unter dem Glacier des Grands hinunter.
Dann weisen Steinmännchen einen anderen Weg als wir geplant hatten. Wir beraten uns kurz – und folgen ihnen. Und tatsächlich, die Route entlang des kleinen Seeleins – „La Goille“ auf der Karte genannt – ist reizvoll und führt zu deutlichen Wegspuren. Diese ermöglichen einen problemlosen Abstieg über eine begraste Flanke zum offiziellen Wanderweg, den wir auf rund 2100m erreichen.
Jetzt „nur noch ins Tal absteigen“, denken wir. Doch weit gefehlt. Auch dieses Teilstück hinunter ins Vallée du Trient macht grosse Freude. Alpenrosen in voller Blüte, ein kunstvoll angelegter Pfad durch die Felsen, ein vermooster Wald, das Rauschen des Gletscherwassers… Abwechslung ohne Ende bis ins Tal.
Im Beizli „Glacier du Trient“ halten wir ein, lassen die Knie abkühlen und gönnen uns eine Aprikosenwähe. Dabei schnuppern wir schon mal ein bisschen an der Tour von morgen, die wieder hier vorbei führen wird.
Zufrieden watscheln wir gemütlich über das Strässlein zur Auberge La Grande Ourse nach Trient zurück, mit Vorfreude auf den schönen Garten mit den Liegestühlen. Bei einem kühlen Bier schauen wir besserwissend zu den Grandes Otannes zurück und bedanken uns für den schönen Tag.
Tourdatum: 30. Juni 2020
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
TMB: Die Hotels in Trient leben von der Tour de Mont Blanc. Dieses Jahr kommen jedoch coronabedingt nur wenig Gäste. So hat es immer Platz, die Wirtsleute sind froh, wenn ihr sie besucht! Die Auberge ist einfach aber liebevoll renoviert. Und Ardita kocht und backt gut!
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