Der Speer und mehr

Der Kletterweg über den Nordgrat zum Speer ist mein Lieblings-Evergreen, der jedes Jahr auf dem Programm steht. Trotzdem fand er bisher nie den Weg in den Blog. Ich führte es darauf zurück, dass die Fotos oder das Wetter nicht gut genug waren. Aber der Grund war wohl eher der fehlende Mut für die anschliessende Gratüberschreitung zum Grappehorn. Heute ist es soweit.

Der Parkplatz Mittelwängi ist schon ziemlich voll. Es ist frisch, aber ich habe keine Lust auf Jacke. Also jogge ich die ersten paar Hundert Meter hinauf. Beim gedeckten Brücklein über den Wängibach habe ich warm genug und schalte zurück auf Genussmodus.

Das bewaldete Talstück ist wunderschön, wie oft habe ich schon den kleinen Wasserfall und den Badeteich fotografiert! Heute tue ich es nochmals. Dann bestaune ich die riesigen Nagelfluhfindlinge und die kleinen Bäume, die darauf ihre bescheidene Existenz aufgebaut haben. Welche Wunder die Natur doch bereit hält!

Wasserkunst
Existenzkünstler

Bald darauf verlasse ich das Fahrsträsschen, der Steigmodus wird intensiviert, ich folge dem Pfad über Hinderwägi zur oberen Rossalp. Vor mir baut sich die grimmige Westwand des Speers auf, die im Schatten noch bedrohlicher wirkt. Ich halte den Moment fest, als die Sonne über den Grat hochsteigt. Magisch, wie das Licht die Bäume verzaubert.

Lichtspiel

Auf der oberen Rossalp pausiere ich, um zu telefonieren. Es dauert, dauert und dauert. Aber weil die Aussicht auf Linthebene und Obersee so grandios ist und die Sonne den Rücken wohlig wärmt, ist mir das egal. Just in dem Moment, als die Arbeit der Freizeit wieder den Vorrang lässt, taucht eine sportliche Wanderin auf, die mich freundlich grüsst.

Die obere Rossalp – schon verlassen

Wir tauschen uns kurz über die möglichen Aufstiegsrouten zum Kletterweg aus und setzen das geplante Unterfangen dann gemeinsam fort. Das wird sich später als glückliche Fügung erweisen.

Am Fuss des Nordgrats angekommen sind wir nicht alleine. Es ist Samstag und die reizvolle Route entsprechend frequentiert. Dank des festen Nagelfluhs bietet der drohende Dichtestress allerdings keine Probleme, Steinschlag ist hier ein eher seltenes Phänomen. So beginnt das grosse Vergnügen mit einigen Überholungen, bald haben wir die Wand jedoch fast für uns alleine.

Der wuchtige Felsgrat
Seitenblick zum Säntis

Der Griff ist überall gut, auch wenn manchmal etwas speckig. Die reichlich montierten Stahlseile sind eine willkommene, aber nicht immer zwingend notwendige Hilfe. Stellenweise ist es zwar ausgesetzt, aber für erfahrene Berggänger nie wirklich grenzwertig. Beim letzten Mal traf ich auf halben Weg einen Steinbock, heute ist es zu busy für die Tiere. Ich glaube, die reissen jeweils über das Wochenende aus. Aber wohin?

Hand anlegen…
… kraxeln…
Das Relax-Bödeli
Nagelfluhzauber

Viel zu schnell für meinen Geschmack erreichen wir den Gipfel. Der ist heute aufgrund der Wanderautobahn von Amden gänzlich überladen, so dass wir sogleich über den Gratpfad nach Süden ausweichen. Auf einem dieser typischen, ausgesetzten Felsriegel machen wir es uns für die Mittagsrast bequem.

Dichtestress auf dem Gipfel

Corinne, so heisst meine Begleiterin, ist begeistert. Wir tauschen uns lebhaft über andere Bergerlebnisse aus und stellen fest, dass unsere Mutgrenzen etwa gleichauf liegen. So frage ich sie, ob sie mich über die nicht markierte Gratroute zum Grappehorn begleiten würde. Alleine will ich das nicht tun, aber zu zweit schon. Sie bejaht.

So setzen wir unser Tageswerk über den aufregenden Grat fort. Wir verlassen den Wanderweg und steigen zunächst zum Abahorn ab. Die Pfadspur führt über Gras und Nagelfluh und erfordert vorerst nur gutes Gleichgewicht. Zwei, drei Handgriffe führen auf das Abahorn. Der Abstieg über die scharfe Nagelfluhkante hinunter zur Grappescharte ist schon anspruchsvoller und ausgesetzt und erfordert absolute Trittsicherheit. Höhenangst wäre der falsche Begleiter. Allerdings könnte man hier auch westlich der Gratkante über ein Band mit hochstehendem Gras ausweichen.

Gratimpressionen

Gleich nach der Scharte folgt die Schlüsselstelle. Ein Felsriegel stellt sich in den Weg, der entweder nördlich über ein schmales Grasband umgangen oder direkt überklettert werden kann. Wir entscheiden uns für Letzteres, weil es so trocken ist. Allerdings erfordert diese ausgesetzte Passage mit ihren lehmigen Tritten robuste Nerven und ein paar Klettergriffe. Meine Toggenburger Begleiterin wirkt so ansteckend relaxt, dass auch ich mich wohl fühle. Ohne sie hätte ich wohl hundert Gründe zur Umkehr gefunden. Ich stelle einmal mehr fest, dass „Teufelchen Mut“ jedes Jahr ein bisschen mehr von „Engelchen Vorsicht“ in die Ecke gedrängt wird.

Bald sitzen wir auf dem einsamen Grappehorn und geniessen den wunderbaren Rundblick in dieses Nagelfluh-Paradies mit seinen so prägenden Formen. Was für ein Unterschied zum Betrieb auf dem Speer! Nur ein weiterer Bündner Alpinist gesellt sich zu uns.

Der eindrückliche Aufbau des Speers…
… der sich bis zum Federispitz fortsetzt
Das Grappehorn – rechts der Mitte der Abstieg (II), weiter unten ist es etwas einfacher

Der Abstieg vom Grappehorn ist nochmals etwas ausgesetzt, danach folgt Genusswandern über einen Grasgrat und hinunter zur Alp Ober Bätrus, wo wir auf einen markierten Wanderweg treffen. Nach einer kleinen Gegensteigung zum Furggli betreten wir wieder das Wängital. Wir steigen gemütlich schwatzend nach Hinderwänge ab, wo uns im Besenbeizli das ersehnte Panache serviert wird.

Und ja, beim Auslaufen entlang des schönen Bachs erwacht bereits wieder die Lust auf den nächsten Speerbesuch. Gerne auch wieder mit Corinne, die inzwischen mit ihrem Bike ins Tal gerauscht ist.

Distelzauber

Tourdatum: 21. September 2019

Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben

ÖV: Gibt es hier leider nicht. Das Wängital kann von Kaltbrunn oder Riedern nur per Auto oder Bike erreicht werden.

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