Der Brienzergrat ist DER Voralpengrat schlechthin. Von Harder Kulm ob Interlaken bis zum Brünigpass bietet die zuweilen scharfkantige Kette im steten Auf und Ab viel Wanderspektakel und eine geniale Sicht auf die imposante Berner Oberländer Gipfelprominenz und den türkisblauen Brienzersee. Viel Steinwild gibt es auch zu sehen. An warmen Herbsttagen mit Morgennebel ein Hochgenuss mit Suchtcharakter. Wir erwandern heute das anspruchsvolle mittlere Teilstück vom Augstmatthorn zum Brienzer Rothorn. Etwas Fitness braucht das Vergnügen.
Das Poschti bringt uns vom nebligkalten Interlaken West nach Hardern, wo wir uns in das übervolle Wandertaxi zur Lombachalp zwängen. Ich schwärme meinen drei Wandergesellen grossmundig vor, dass uns dort die Sonne erwarten wird – doch ich liege falsch. Ende Oktober steht die Sonne sehr tief, es ist kurz vor Neun noch schattig auf der weiten Alp, aber immerhin sind wir dem Nebel entronnen.
Der Aufstieg von der Lombachalp auf das Augstmattthorn ist einfach und in weniger als eine Stunde geschafft. Kurz unter dem Gipfelgrat trabt ein erster Steinbock sportlich an uns vorbei. Noch wesentlich eindrücklicher ist allerdings der „Wow-Effekt“, der uns Minuten später auf dem Grat erfasst. Die wärmende Sonne über uns, der dicker Nebel unter uns – wie ein Gletscher fliesst die Nebelwatte über dem Brienzersee. Vor uns stehen Eiger, Mönch, Jungfrau, Schreckhorn und Finsteraarhorn & Co Spalier. Da atmet man kräftig durch und bestätigt sich gegenseitig, wie toll der Tag begonnen hat!
Dann klingelt das Telefon, die Arbeit dringt wie so oft in meine Erlebniswelt ein. No problem, ich lasse die anderen weiterziehen und tauche konzentriert in die Themen meines Klienten ein. Nach einer halben Stunde ist alles geregelt, die Natur zerrt mich schnell zurück in ihren Bann. Ein kräftiger Schluck Wasser, ein Fruchtriegel, ein paar Fotos – dann beginnt der Gratmarathon.
Zunächst führt ein etwas schmieriger Pfad vom Augstmatthorn über das Wytlouwihore 250Hm steil in den ersten Sattel hinunter. Das gibt gleich den Tarif für den weiteren Tagesverlauf durch: achtsam sein. Eine Herde Gämse vor mir geht das wesentlich entspannter an, ich beneide sie darum. Über Blasenhubel und Gummhubel ist der grasige Gratrücken breiter, es lässt sich gemächlich zum Schnierenhireli (wer erfindet bloss diese Namen?!) hochsteigen, wo Erhard auf einer Felskanzel sitzend auf mich wartet. Er zeigt auf den See, der sich inzwischen vom Nebel befreit hat und mit in der Sonne glitzernden Wirbeln punktet. Cool!
Der steile, etwas heikle Abstieg zur Ällgäuwlücke fragt zwischendurch nach dem Einsatz der Hände, darauf folgt ein nahrhafter Aufstieg zum bulligen Ällgäuwhore. Das anschliessende Gratsurfen zum Tannhorn ist besonders spektakulär. Nicht weil es so ausgesetzt wäre – das kommt erst noch – sondern weil die steil abfallenden Flanken hier so schön geschwungen sind. Die Südseite präsentiert sich in der prallen Sonne, die Nordseite mit abweisendem, kühldunklem Schatten. Die Abwechslung lässt die Anstrengung vergessen. Inzwischen kommen uns auch Wanderer entgegnen, die auf dem Brienzer Rothorn begonnen haben. So erreichen wir das prägnante Tannhorn, wo Walter und Andrea bereits den perfekten Picknickplatz reserviert haben. Wir geben uns einer ausgedehnten Mittagspause hin, der Hörnlisalat schmeckt gut. Dann dösen wir eine Weile im sonnengedörrten Gras.
Wir haben noch ein gutes Stück weg vor uns – die meist gut sichtbare Bergstation der Rothornbahn ist mehrere Kilometer entfernt. Immerhin liegen die meisten Höhenmeter nun hinter uns. Der Abstieg vom Tannhorn ist erfolgt über ein stellenweise stark ausgesetztes Gratstück, das jedoch an der heikelsten Stelle kettengesichert ist. Erneut schöne Fotomotive. Ab dem Wannepass wird es einfacher. Es bleibt Zeit, das Panorama auch im Laufen zu geniessen. Der Blick auf die Schrattenfluh oberhalb von Sörenberg nördlich, auf die Axalp südlich wecken schöne Erinnerungen.
Auf dem Chrüterepass erreichen wir wieder einen markierten Wanderweg (wobei auch die unmarkierte Route vom Blasenhubel bis hierhin fast durchgehend einen guten Pfad aufweist). Die Route weicht nun erstmals kurz in die Nordflanke aus, um wenig später über das steile Lattgässli, mit Hilfe einer vermutlich einst vom Militär angelegten Betontreppe, wieder auf den Grat zu gelangen. Dieses Teilstück wird wohl jeweils bis spät im Juni kaum passierbar sein (Restschnee).
Nun ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Rothornbahn, wir meinen den ofenwarmen Aprikosenkuchen schon zu riechen. Der muss dann allerdings noch etwas warten, da wir auf ein Grüppchen deutscher Frauen stossen, die von Sörenberg kommend die Ausgesetzheit des Gratwegs etwas unterschätzt haben. Sie brauchen viel gutes Zureden und eine haltende Hand, um das letzte Teilstück zu meistern.
Schliesslich steht dem feinen Zvieri nichts mehr im Weg. Genussvoll Kuchen kauend und mit einer grossen inneren Zufriedenheit gleiten unsere Blicke über den langen Grat zurück. Die nachmittagliche Stimmung ist fantastisch. Die Sonne spiegelt sich im See, die Feuchte in den Tälern beginnt zu kondensieren. Tolle Bilder, ein toller Tag, einfach grossartig. Beseelt von der Schönheit der Alpen lassen wir uns nach Sörenberg hinuntergondeln.
Tourdatum: 20. Oktober 2018
Kartenausschnitt Brienzergrat (pdf)
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
öV: Postauto ab Interlaken West, Wandertaxi in Habkern bis Lombachalp. Luftseilbahn Brienzer Rothorn-Sörenberg
Links zu den beiden Anschlusstouren auf dem Brienzergrat:
Wunderbar!!! Herzliche Grüsse, Peter
Ah, diese Bilder! Ganz herzliche Grüsse, Luzi