Eine Hochtour der Superlative. Von der Domhütte steigen wir über das Festijoch auf den Hohbärggletscher, klettern auf das Dirrujoch und überschreiten den berühmten Nadelgrat. Wir erklimmen dabei das Hohbärghorn (4217m), das Stecknadelhorn (4239) und das Nadelhorn (4327), gefolgt von einem langen Abstieg nach Saas Fee. Auch wenn die Luft in dieser Höhe dünn und das Steigen dadurch anstrengend wird – mehr Faszination am Berg kann man sich kaum ausdenken.
Um 2.30 Uhr dreht der Hüttenwart das Licht an. Wir kriechen aus unseren Kojen und schleichen in den Essraum, kauen schweigend etwas Brot und Käse und montieren anschliessend unsere Gebirgsausrüstung. Kurz nach 3 Uhr schalten wir unsere Stirnlampen ein, die Tour beginnt. Ein paar Glühwürmchen vor uns, ein paar hinter uns. Keine fünfzehn Bergsteiger, die meisten mit dem Dom als Tagesziel. Unsere Route ist anfangs dieselbe. Nach 45 Minuten Moränen und Blöcken schnallen wir die Steigeisen an und betreten den gut zugeschneiten Festigletscher. Es ist kühl und friedvoll, nur das gleichmässige Kratzen der Eisen auf dem harten Schnee durchbricht die Stille. Kurz vor fünf Uhr beginnt es zu dämmern, ein Kranz grossartiger Namen wie Matterhorn, Dent Blanche, Obergabelhorn, Zinalrothorn und Weisshorn macht seine Aufwartung. Noch im Licht der Lampen bewältigen wir die einfache, aber ausgesetzte Kletterei auf das Festijoch, dann erreichen die ersten Sonnenstahlen die Bergspitzen und lassen sie rot leuchten. Es wird Tag.
Hier trennt sich unser Weg von den anderen Seilschaften. Während die einen dem Festigrat folgen, schreitet die Mehrheit über die Normalroute (Hohbärggletscher) zum Dom. Wir steigen hingegen 250Hm über den Gletscher ab, wo uns ein verfirntes Couloir den Einstieg zur Traversierung der Westflanke des Hohbärghorns erlaubt. Die Übersteigung des Bergschrunds bildet eine erste Herausforderung, richtig abenteuerlich wird es aber erst etwas weiter oben. Schmelzwasser hat die schuttige Flanke zentimeterdick mit Eis überzogen. Remo und ich sind etwas verdattert, aber Peter weiss Rat und sichert die schwierige Passage souverän. Zum Glück vertraue ich ihm blind, sonst wäre ich hier umgekehrt. Trotzdem bleibe ich etwas angespannt und denke: „Peter war vor sechs Jahren letztmals auf dieser selten begangenen Route. Traut er mir wirklich zu, was da noch kommen mag?“ Aber natürlich, die Route führt zwar über steile Firnpassagen und viel Schutt, aber mit den Steigeisen an den Füssen bleibt alles im grünen Bereich, und die Kletterei ist einfach. So erreichen wir einen namenlosen Gletscher (der wohl früher Teil des Hohbärggletschers war), über den wir wenig schwierig aber steil zum Dirrujoch hochsteigen. Die letzten 100m mit den Frontzacken sind richtig anstrengend für die Waden, die heftig reklamieren.
Hier wärmen, rund fünf Stunden nach Abmarsch, die ersten Sonnenstrahlen unsere Gesichter. Wir begeistern uns ob der gewaltigen Sicht auf den Riedgletscher und der Fernsicht auf die Berner Alpen. Aber wir entscheiden uns auch, auf den optionalen Ausflug zum Dirruhorn (4034m) zu verzichten. Der ganze Nadelgrat liegt noch vor uns, und ich spüre die Höhe und den sinkenden Ladestand meiner Batterien. Ich werde später dankbar dafür sein.
Nun machen wir uns freudig an die Gratkletterei. Der Weg zum Hohbärghorn führt zunächst über einen Blockgrat, dann über Firn, und schliesslich über eine steile Felsstufe, die sich wunderbar erkraxeln lässt (I). Wenig später stehen wir auf dem ersten Viertausender des Tages. YES!
Und jetzt sieht man die ganze Eleganz des Nadelgrats – was für ein Bild! Firnpassagen und Kletterpartien, und das alles in der Kulisse der gewaltigen Seracs des Riedgletschers und des gegenüberliegenden Doms, dessen eisige Nordflanke einfach zum Anbeissen aussieht!
Wir steigen die wenigen Meter zum Hohbärgjoch hinunter und schreiten über das Firn weiter zur anspruchsvollsten Passage des Tages: der zerklüftete Grat des Stecknadelhorns, dessen Gipfel wir nach 45 Minuten anspruchsvoller Kletterei (I-II) erreichen werden. Es macht Riesenspass, aber ich muss regelmässig pausieren, um den Puls zu senken und meine Muskeln mit genügend Sauerstoff zu versorgen. An Fotografieren ist nicht zu denken. Nach einer kurzen Pause beim Gipfelkreuz, zwei Traubenzuckern, einem halbgefrorenen Farmerstengel und etwas Tee ist die Energie wieder da. Wir surfen über den geschwungenen Firngrat zum Gipfelaufbau des Nadelhorns und umgehen diesen vorsichtig traversierend über die 45-Grad Flanke, wo jeder Fehltritt zu einer Schlittelfahrt ins Endlose mutieren würde. Das dabei ausgeschüttete Adrenalin setzt die letzten Kräfte frei, um schliesslich, gut drei Stunden nach dem Betreten des langen Grats, den 4327m hohen Gipfel des Nadelhorns zu erreichen. Ich bin ziemlich ausser Atem, aber masslos glücklich. Was für ein Tag, was für eine Erleichterung, was für ein Spektakel! Ich danke Peter von Herzen für seine tadellose Führung und kann dann – wie so oft in solchen Momenten – meine Tränen nicht zurückhalten. Der Blick zum Dom, zur Lenzspitze, zum Weissmies, die Tiefe, und und und… grossartig!
Doch jetzt müssen wir noch runter. Das geht zwar ziemlich einfach, denn der Firngrat zum Windjoch ist noch überhaupt nicht vereist. Aber es dauert eine schöne Weile, bis wir kurz vor der Mischabelhütte, 1000m weiter unten, den Gletscher verlassen. Endlich können wir die Steigeisen von den Füssen schütteln. Jetzt ist aber auch die Luft wieder sauerstoffreich und so schreien unsere Mägen nach Kohlenhydraten, die uns das freundliche Hüttenteam in Form einer knusprigen Rösti verabreicht. Gestärkt machen wir uns später an den langen Abstieg über den spannend angelegten Klettersteig nach Saas Fee, der wie der Aufstieg zur Domhütte einen eigenen Blogbeitrag (folgt später!) wert ist.
Die lange Tour findet um 16.00 Uhr ihr Ende im Hannig-Gondeli, das uns die letzten 600Hm Abstieg nach Saas Fee schenkt. Bald darauf springen wir mit einer Büchse Quöllfrisch in der Hand in das Postauto nach Visp.
Tourdatum: 12. Juli 2018
Herzliche Gratulation, Edwin. Es freut mich, dass Du Dir diesen lange gehegten Traum erfüllen konntest und erst noch bei solchen Bedingungen. Ohnehin kann ich mich nicht an einen so tollen Bergsommer erinnern.
Wunderbar. Dieser Sommer hat wohl für Dich nur einen Makel: Zu wenig Gipfel!
Herzliche Gratulation
Peter