Die heutige Alpinwanderung begann schon gestern in der Wirtsstube des Hotels Bergalga. Wirt Willi spürte meine Begeisterung fürs Avers und empfahl mir, das Tscheischhorn zu erklimmen. Der Felsgipfel liegt inmitten der Averser Talschaften und ermöglicht ein wunderbares Kennenlernen dieser entlegenen Region. Als Zugabe erlebe ich besondere Gipfelbegegnungen.
Der Wetterbericht torpediert meinen Plan, heute zum Splügenpass weiterzuziehen. Früh drohende Gewitter ermahnen zu einem Halbtagesprogramm. Das Pech ist mein Glück, denn ich fühle mich seit der ersten Minute wohl im Hotel Bergalga. Das herzliche Personal, die heimischen Spezialitäten auf der Speisekarte, der Blick von meinem Zimmer ins Bergalgatal, die Unterhaltung am Single-Tisch mit Luzi: alles perfekt. So ist die Aussicht, noch einen Tag im Avers zu verbringen, ganz verführerisch.
Die sympathische Beatrice macht mir ein frühes Frühstück, dann ziehe ich gestärkt von feinem Brot, heimischem Käse und geschmackvollem Birchermüesli los. Der Himmel ist noch blau, die frisch gemähten Wiesen sind taufeucht, das Wasser im Bach rauscht friedlich. Kurz nach Abmarsch treffe ich einen Fehlentscheid. Um keine nassen Füsse zu riskieren, überquere ich am Eingang des Bergalgatals ein Brücklein (siehe Foto oben) und folge den Bachlauf crossmässig talaufwärts bis zum Tscheichabach (so ist es auch in den Berichten auf hikr. org beschrieben). Aber das wird ein anstrengender Kilometer, denn die Wiesen sind steil und uneben. Ich bereue bald, nicht auf dem Weg auf der anderen Talseite geblieben zu sein, das Flussbett ist breit und der Bach nicht tief. Immerhin weiss ich schon jetzt, dass ich mir das Grasgehoppel auf dem Rückweg ersparen kann.
Endlich kommt der Tscheichabach, der sich weiter oben spektakulär tief in den Berg eingegraben hat. Ich überschreite ihn und steige dann am Rand des eindrücklichen Bachtobels den steilen Fürgaberg bis zu einem breiten Grasrücken hoch. Dort erwartet mich eine Herde Rinder, die mich neugierig mustert. Mit etwas Respekt umgehe ich die kräftigen Jungs und steige im gleichmässigen Rhythmus den zwar nur mässig steilen, aber schier endlosen Rücken hoch. Etwas eintönig, aber das Panorama ist grossartig.
Bald zeigen sich meine Bergeller Zackenfreunde jenseits des Bergalgapasses. Ich muss an die Chiavenner denken, die im 13. Jahrhundert von den Walsern aus dem Avers vertrieben wurden. Diese stiegen dann ihrerseits über Jahrhunderte im Sommer wie im Winter über 2000m ins Bergell ab, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Erst in den 1890er Jahren wurde eine Strasse von Andeer ins Avers gebaut, die die Versorgung der Talschaften vereinfachte. Lange blühte auch der Schmuggel in beiden Richtungen.
Kurz vor Hojäbühl, ein kleiner Gupf auf 2800m, der das Ende der Grasmarsches markiert, finde ich mich in einem Feld voller Edelweisse wieder. Ich setze mich freudig hin, um etwas zu trinken und zu fotografieren. Meine Beine sind schwer heute, ich leide etwas mehr als mir lieb ist, so kommen mir die Blümlein als Pausengrund gerade recht.
Vor mir baut sich nun der steinig-plattige Vorgipfel auf, auf dem ich zu meiner Überraschung zwei Berggänger entdecke. Eine Gemsmutter mit ihren beiden Jungen flüchtet vor ihnen in die Flanke, die beiden scheinen es nicht zu merken. „Tipptopp“, denke ich. Die werden mir den Weg zum Gipfel zeigen, denn der Brocken sieht eigentlich ziemlich abweisend aus. Bald erreiche auch ich den Vorgipfel und hüpfe über die Gratblöcke zur Scharte hinunter. Die beiden vor mir scheinen problemlos einen Weg zum Gipfel zu finden. Die Freude über diesen jetzt etwas anspruchsvolleren Teil der Tour lässt mich meine Müdigkeit vergessen. Wenig später reiche ich Alexandra und Roman zum Gipfelgruss die Hand.
Es entwickelt sich ein reges Gespräch, die Heinzenberger sind überaus freundlich, bald sprechen wir über unsere gleichaltrigen Söhne. Wir erklären uns gegenseitig das Panorama und rühmen die speziellen Schönheiten des Avers. Anschliessend erküren wir den Piz Gallagiun auf der italienischen Grenze als besonders begehrenswertes Wanderziel. Der Eintrag ins Gipfelbuch unterstreicht den Zufall unserer Begegnung. Vor 10 Tagen war der letzte Besucher hier.
Dann ruft Roman plötzlich: „Schau nach oben!“ Über uns schwebt ein grosser Bartgeier, der offensichtlich wissen will, wer ihn da in seinem Revier stört. Er kreist ganz nah über unsere Köpfe hinweg und zeigt uns stolz die enorme Spannweite seiner Flügel. Ich will ihn filmen, und so dreht er nochmals eine Runde, bis er sein Interesse an uns verliert und entschwindet. Was für ein Erlebnis! Ich bin tief beeindruckt, von so nahe habe ich noch nie einen Bartgeier gesehen.
Der Link zum Kurzvideo: D3CB84AE-34F2-459C-9BBE-37228874F1D7
Wir bleiben mehr als eine Stunde auf dem Gipfel. Eigentlich etwas zu lange, denn es zieht nun schnell zu. Schliesslich steigen wir angeregt plaudernd gemeinsam über die Aufstiegsroute ab. Kaum haben wir den Bergalgabach übersprungen, fallen die ersten Tropfen. Der Regen löst das eingetrocknete Salz auf meinem Gesicht und läuft angenehm über meine Lippen. Schön.
Zurück im Hotel Bergalga lasse ich mir nochmals einen feinen Zmittag servieren und packe danach etwas wehmütig meine Sachen zusammen. Auf der langen Postautofahrt nach Andeer lerne ich vom gesprächigen Chauffeur noch viel mehr über die Eigenheiten des Avers, in das ich gerne bald zurückkehren werde.
Tourdatum: 28. Juni 2018
Kartenausschnitt Tscheischhorn (pdf)
Interaktive Karte mit Höhenprofil und Zeitangaben
2 Kommentare