Von der Cluozza-Hütte führt eine blauweiss markierte Route zum höchsten Pass des Nationalparks, die Fuorcla di Sassa. Eine ziemlich wilde und steinige Sache für Liebhaber von Einsamkeit. Auf der anderen Seite führt der etwas weniger rumplige Abstieg ins liebliche Val Trupchun, das vor Blumenpracht nur so strotzt. Ein gemütliches Auslaufen führt mich schliesslich ins Hotel Castell nach Zuoz, ein gewollter Kontrast nach der Nacht in der einfachen Blockhütte.
Kurz vor sieben Uhr verabschiede ich mich nach einem etwas kargen Frühstück von Arno und Chris, die nach Zernez absteigen. Nach drei Tagen Geselligkeit bin ich ab jetzt alleine unterwegs. Im wilden, einsamen Val Cluozza fühlt man das doppelt. Ein paar wenige Vögel pfeiffen, sonst rauscht nur der Bach. Ich werde diese Saison wohl einer der Ersten sein, der die Fuorcla di Sassa anpeilt. An den Nordhängen liegt noch ziemlich Schnee. Ein gutes Gefühl, die Steigeisen im Rucksack zu wissen.
Nach einer knappen Stunde entlang des Wassers, über Wurzeln und Steine hüpfend, zweigt der Pfad nach rechts ins Sassa-Tal ab. Ein paar letzte Bäume, dann dominiert das Grau des Schutts, bald durchsetzt mit weissen Schnee-Tupfern. Auf halber Höhe überschreite ich den rund zweihundert Meter langen Blockgletscher, der sich infolge des auftauenden Permafrostes kaum mehr talabwärts bewegt. Dann wird die Steinwüste noch steiler und zunehmend weglos, zum Glück scheint die Sonne noch nicht so stark.
Das Tal dreht sich auf 2500m nochmals markant nach Westen und flacht ab. Jetzt sehe ich die Fuorcla vor mir – das sieht nach einem heftigen Schlussaufstieg aus! Zunächst muss aber ein grosses Schneefeld passiert werden, das von Regen, Sonne und Wind schon ziemlich bearbeitet worden ist. Wie eine riesige, weisse Toblerone überzieht es den ganzen Talkessel. Ein tolles Fotosujet, aber etwas mühsam zum Überschreiten.
Das letzte Teilstück im Schutt ist tatsächlich so knackig, wie es aus der Ferne schien. Die Stöcke helfen, bald stehe ich auf dem Pass und begrüsse das Oberengadin. Und wie! Bernina-Gruppe, Piz Kesch, Piz Ela, unter mir der eisige Lei da Müschauns. Wunderbar! Doch der Wind bläst kräftig und die im Wetter-App angedrohten Regenwolken werden im Norden schon sichtbar.
So bleibe ich nicht lange und mache mich ans Schuttsurfen hinunter ins Val Müschauns. Ich komme zügig vorwärts, werde dann aber am Fuss eines kettengesicherten Felsabstiegs gestoppt. Drei steile, durchgefrorene Lawinenschneestreifen bedecken den schmalen Pfad. Zwar nur ein paar Dutzend Meter, aber ohne Hilfsmittel nicht passierbar. So bin ich froh um meine Steigeisen, auch den Pickel nehme ich gerne zur Hand. Ich habe die Dinger schon drei Tage unbenutzt mitgetragen, aber für diese 30 Sekunden sind sie ein Segen. Etwas weiter unten brauche ich sie gleich nochmals. Das kostet zwar immer etwas Zeit, aber schont die Nerven.
Das war’s dann schon mit den alpinen Herausforderungen. Sie enden spätestens beim Brücklein über den Bach, das noch nicht sommerbereit gemacht worden ist (siehe Foto). Wohl bewusst. Doch jetzt beginnt das Blumen- und Lärchenfest, weiter unten im Val Trupchun finde ich sogar bunte Lilien am Wegrand. Der Wanderweg wird breit, und kurz nach Zwölf sitze ich auf der Terrasse der Parkhütte Varusch, wo ich mich mit Chäshörnli und Apfelmus verwöhnen lasse.
„Zurück aus der schönen Wildnis und Unberührtheit des Nationalparks in der Zivilisation, aber irgendwie noch nicht so richtig“, überlege ich mir. Ursprünglich wollte ich hier übernachten, aber es ist noch so früh, und jetzt will ich den Kontrast. So entschliesse ich mich weiterzulaufen. Sobald mein Telefon wieder Empfang hat, rufe ich das Hotel Castell in Zuoz an und reserviere ein Zimmer. Und einen Massagetermin. Dann setze ich mich für eine Weile an das Ufer des Inns und bewundere in bester Stimmung die Skyline von S-chanf und später jene von Zuoz, ärgere mich aber auch etwas über den Lärm der Kantonstrasse, der allgegenwärtig ist.
Der Himmel ist inzwischen schwarz geworden, aber das kümmert mich nicht. Mit Schwung bewältige ich die letzte Steigung des Tages zum Zuozer Wahrzeichen. Wenig später lasse ich im schönen Zimmer meinen Rucksack zu Boden gleiten, befreie mich von den schweren Schuhen und verschwinde singend unter die herrliche Dusche. Die Massage und der Znacht übertreffen dann auch meine Erwartungen. Ein Volltreffer.
Tourdatum: 28. Juni 2018
lieber edwin, genau diese tour haben wir vorletzten sommer gemacht; allerdings mit einem plötzlich aufkommenden gewitter im rücken. Ziemlich unangenehm…die varuschhütte erreichten wir noch trockenen fusses, aber nach kurzer zeit füllte sich die ganze talsohle mit wasser, und das ehemalige rinnsal wurde zum reissenden fluss. Erschreckend und faszinierend zugleich; die kraft der natur! Dein wunderbarer blog begeistert mich jedesmal!
Herzlich, ursula
Diese Brücke, die noch nicht sommerbereit gemacht wurde, wird gemäss Aussage des Tourismusbüros gar nicht mehr montiert. Davon konnte ich mich gestern überzeugen. Die Brücke bei der Cluozzahütte war dann aber doch montiert, trotz Aussage des Tourismusbüros, dass diese ebenfalls nicht mehr montiert werde.