Heute kraxle ich durch den Hintereingang zum Glacier de Tsanfleuron. Die wenig begangene Tour ist dank der vor wenigen Jahren kunstvoll angelegten „Via Ferrata des Dames Anglaises“ für Alpinwanderer möglich geworden. Sie ersetzt eine steinschlaggefährdete Route über den arg geschrumpften Glacier de Prapio. Ein Besuch des Peak Walk auf dem Sex Rouge soll die Tour abrunden. Nach einem Lunch im Botta-Restaurant will ich mit der Bahn wieder zum Col du Pillon hinunterfahren. Doch der Wind macht mir einen Strich durch die Rechnung – und so kommt eine zweite Tour dazu.
Kurz nach sieben parkiere ich auf dem Col du Pillon neben der Glacier 3000-Bahn. Hohe 22 Grad zeigt meine Garmin an, es bläst wie verrückt aus Süden. „Bergwind nach einer warmen Nacht“, denke ich, und mache mir weiter keine Gedanken. Der Wanderweg führt zunächst im sanften Auf und Ab entlang der zunehmend verwaldenden Flanken des Sex Rouge.
Bei Punkt 1647 zweigt eine blau-weiss-blau markierte Route nach „Le Drudy“ ab. Ich grüsse einen Schafhirt, der im Windschatten seiner Hütte mit seiner Tochter frühstückt. Der Pfad steigt nun kräftig an und dreht nach Osten. Und siehe da: Ich stehe hoch über dem Creux de Champ, einem mächtigen, halbrunden Talkessel. Dahinter die senkrechten Nordwände des Diablerets-Massivs. Wie eine Kathedrale! Eine schöne Picknickbank lädt zur Pause, doch der Wind bläst hier wieder so stark, dass ein gemütliches Pausieren nicht in Frage kommt.
Etwas besorgt steige ich in die Traverse von Le Dudry ein, ein durch sehr steile Grasflanken und eindrückliche Felswände geprägtes Gebiet. Eine Tafel warnt vor Steinschlag. Der Pfad ist tipptop angelegt, trotzdem nehme ich hin und wieder eines der Stahlseile in die Hand, um im Fall der Fälle nicht von einer Böe weggeblasen zu werden. Zu meinem Erstaunen finden hier ein paar Schafe ein Auskommen, die sich weder vom Wind noch von mir stören lassen. Sie müssen mir auf heftiges Bitten hin widerwillig den Weg freigeben, denn ich will den Pfad angesichts der Tiefblicke lieber nicht verlassen.
Der Pfad verliert später etwas an Höhe und mündet nach der Überschreitung eines Block- und Geröllfeldes schliesslich in den Hüttenweg ein, der mich zur Refuge de Pierredar führt. Diese präsentiert sich hübsch geschmückt für den heutigen Nationalfeiertag. Ich werde freundlichst begrüsst und wenig später steht ein Stück warmer Apfelkuchen vor mir. Wunderbar – „une deuxième piece, s’il vous plait!“ Die Romands freuen sich – oder schmunzeln sie nur über mein hilfloses Französisch?
Von der Hütte geht es weglos aber gut markiert weiter. Weisse Striche und Steinmännchen weisen den Weg zum Klettersteig. Ein grosser, roter-weisser Punkt zu Beginn der nächsten Geländestufe markiert den Beginn der Kletterei. Am Fuss des komplett blanken Prapio-Gletschers überquere ich den Bach und stehe bald am Fuss eines langen Felsriegels. Ich montiere Klettergurt und Steigeisenset, ziehe den Helm an und mache mich konzentriert an das Filetstück der Tour.
Der Fels ist erstaunlich fest, und der Klettersteig im Gegensatz zu vielen Artgenossen nur mit einem Minimum an eisernen Griffen und Tritten ausgerüstet. Das Fixseil nehme ich jedoch gerne als Sicherung und Zugmittel zu Hilfe. Für meinen Geschmack viel zu schnell stehe ich auf der Oberkante des Felsriegels. Dort werde ich von den „englischen Damen“ (drei Felstürme, siehe Foto unten) begrüsst, denen der Wind genauso um die Ohren pfeifft wie mir.
Der weitere Verlauf des Steigs ist einfach zu meistern und erlaubt ungemein schöne Seitenblicke auf den zerfurchten Gletscher. Zum Schluss wartet eine harte Schutthalde, deren Erklimmung etwas mühsam ist. Dies vor allem, weil ich abkürzen will und direkt zum Grat hochsteige. Es ist ratsamer, nahe der Kante bis zum Col de Prapio zu traversieren. Ja nun, mit ein paar Verschnaufpausen mehr als gedacht erreiche ich den Grat und werde reichlich belohnt: Gleich dutzendweise begrüssen Berner und Walliser Viertausender den verschwitzen Ankömmling mit den verwehten Haaren. Ich atme kräftig durch, trinke etwas und drehe mich dann zur Sex Rouge: Bald realisiere ich, dass gar keine Menschen auf dem Berg und bei der Bahnstation sind. Auch keine auf dem ausgeschilderten Gletscherweg. Nirgends niemand – nur der Wind. Die Bahn fährt nicht.
Ich blicke auf die Uhr und erinnere mich an das nicht mehr einhaltbare Versprechen um 14 Uhr die Familie in der Palace Badi zu treffen. Auch der Magen knurrt trotz des doppelten Apfelkuchens. Doch die Sonne scheint und die Aussicht ist so prächtig, dass ich aus der Not eine Tugend mache. Ich begebe mich auf den Klassiker „Eis und Wasser“ zum Sanetschsee. Doch davon erzähle ich im nächsten Blogbeitrag (inkl. der Bilder, die ich Euch hier noch vorenthalte).
Tourdatum: 1. August 2017
Kartenausschnitt Dames Anglaises (pdf)
Übersichtsgrafik (Quelle: www.viaferrata.com)
2 Kommentare