Am Fuss des Bächenstocks breitete sich einst ein mächtiger Gletscher aus, der Seewenzwächten. Der gegen Südwesten offene Bergkessel diente als Schneefang und sorgte trotz der ausgeprägten Sonnenlage immer für genügend Eisnachschub. Das ist vorbei. Ich besuche ihn heute, um von ihm Abschied zu nehmen, und erklimme dabei den Spitzplanggenstock.
Als ich etwas forsch von der Sustenstrasse abzweige, um auf dem schöngelegenen Parkplatz am Gorezmettlenbach zu parkieren, steht schon ein schwarzer Kleinbus da. Grosse Aufregung entsteht, zwei junge Frauen rennen vom Bach zum Wagen, um ihre Gesichter zu verhüllen. Ich bleibe aus Respekt noch kurz im Auto sitzen, bis der Harem des freundlich grüssenden Touristen aus dem Mittleren Osten wieder vorzeigefähig ist. Dann mache ich mich wanderbereit. Bald verschluckt mich der lichte Wald, durch den der steile Hüttenweg zur Seewenhütte hinaufführt.
Zunächst über viele Wurzeln steigend, später über grosse Steine stapfend, schlängle ich mich den Berg hinauf zur majestätisch gelegenen Seewenhütte. Ich frage den freundlichen Hüttenwart nach allfälligen Schwierigkeiten beim Zustieg zum Bächenstock und genehmige mir ein kaltes Schorle. Es ist heiss, und ich bin eigentlich schon viel zu spät dran. Auch mein Bauch ist etwas rumorig seit meinem Georgientrip und mein Telefon bittet laufend um Aufmerksamkeit. Keine ideale Voraussetzungen für ein T5-Tour. Ja nu, es ist Diens(t)tag. Nicht klagen!
So biege ich nach der kurzen Pause auf den Pfad zum Spitzplanggenstock ein, der mich durch das Seewental an die Gletscherzunge führen wird. Unter mir breitet sich das grüne Seewenseeli aus, eine Westwindbrise kühlt angenehm. Nach einer längeren, nur leicht ansteigenden Traverse erreiche ich das Talende bei Seewenstöss. Hier wartet eine steiler Hang, der mich auf die nächste Talstufe zum Gletscher führen wird. Die Markierungen wechseln auf blau-weiss-blau, mit dem letzten Grashalm endet auch der Pfad. Ein paar Schafe schauen mich verwundert an. Warum will der da hoch, dort gibt es doch nichts zu Fressen?
Mein Stirnband ist klitschnass, als ich zuoberst die gletschergeschliffenen Felsen erreiche. Noch kein Eis zu sehen. Ein paar Hundert Meter später ist es soweit. Ojemine! Da komme ich wirklich gerade noch rechtzeitig. Vor mir erstrecken sich zahlreiche zusammenhängende Eisfelder, die den Rest des Seewenzwächten bilden. Gletscher kann man den Fleckenteppich eigentlich nicht mehr nennen. Vollkommen spaltenfrei, an vielen Orten bricht der Fels durch. Das Gletscherzünglein ist ein Häufchen Elend, aus dem sehr viel, zu viel Wasser sprudelt. Ich nähere mich dem Eis, setze mich hin und beobachte staunend den Todeskampf des einstigen Riesens.
Dann packe ich die Steigeisen aus und stelle mit Schrecken fest, dass mein Pickel fehlt. Die unverhüllten Araberinnen haben mich wohl zu sehr verwirrt. Was nun? Ich folge mit meinen Augen die beabsichtigte Aufstiegsroute und muss mir eingestehen, dass mir das letzte Teilstück unterhalb des Bächenstocks zu steil ist. Ohne Eisenkralle in der Hand käme ich zwar hoch, aber nicht innerhalb meiner Sicherheitsmarge hinunter.
Auch mein Bauch ruft mir zu, dass er es heute etwas ruhiger nehmen wolle. Ich gebe nach und plane um. So steige ich über die Felsen zurück in die Steinwüste und drehe wieder auf die markierte Spitzplanggenroute ein. Nach einer guten halben Stunde durch und über Blöcke und Geröll erreiche ich das neckische Gipfelchen, das keine nennenswerte Kletterei erfordert (T4/I).
Inzwischen bin ich wieder ganz zufrieden, weil der angepasste Zeitplan mehr Spielraum für Pausen zulässt. Die Aussicht ist wunderbar, auch wenn der erhoffte Blick auf die beiden Spannörter entfällt. Dafür sehen der Bächenstock und sein markanter Nachbar im Rücken, der Zwächten, von hier aus reizvoll aus. Vom Gipfel überblicke ich auch das ganze Ausmass des schwindenden Seewenzwächtens und nehme würdig Abschied von ihm. Es wird nicht die letzte Zeremonie dieser Art sein.
Zurück in der Hütte kann ich mich kaum entscheiden, ob ich nun Linzertorte oder Apfelkuchen essen soll. Mein Kopf will beides, mein Bauch keines, also einigen wir uns auf den Streuselkuchen. Nach einem Schwatz mit anderen Berggängern nehme ich relaxt den Abstieg unter die Füsse. Der blaue Himmel, die reiche Flora, die kantigen Zacken des Meientals und das Rauschen der fernen Bäche lassen mich schweben. Was will man mehr?
Und ja, auf dem Parkplatz steht wieder ein schwarzer Bus. Diesmal hat man mich aber rechtzeitig kommen sehen.
Tourdatum: 22. August 2017
Kartenausschnitt Seewenzwächten (pdf)
Interaktiver Kartenausschnitt (Schweizmobil)
N.B. Zu meinem grossen Ärger ist fast die Hälfte der Bilder dieser Tour unscharf geworden. Ich habe das iPhone App „Pro Camera“ ausprobiert, das besser sein soll als die Standardkamera. Böse Zungen behaupten, Apple mache das bewusst. … aber da der Bächenstock (mit Pickel und Eisschrauben im Gepäck) nachgeholt werden wird, wird der Beitrag später noch ergänzt. Danke, Gabriel, für das geliehene Gipfelfoto vom Spitzplanggenstock
Guten Tag
Herzlichen Dank für die tollen Fotos und die super Beschreibung Deiner Tour. Ja, leider sieht man den Gletscherschwund überall in der Schweiz.
Bist Du schon mal von der Fürenalp auf den Wissberg und dann weiter über die Rotbandleiter zur Rugghubelhütte?
Diese Tour würde mich schon längers interessieren.
Weiterhin viel Glück auf all Deinen Auf- und Abstiegen!
Freundliche Grüsse
Jolanda