Der älteste Rheintaler macht es möglich. Der vor zwei Wochen üppig gefallene Schnee ist weg und die Südhänge sind bis weit oben stocktrocken. Als mich Gabriel einlädt, ihn bei der Besteigung des Tschugga über die Südflanke zu begleiten, sage ich sofort zu. Wir erleben eine reizvolle Spätherbsttour der besonderen Art – auch wenn wir auf dem Gipfel vom Föhnsturm fast weggeblasen werden.
Wir parkieren beim Reservoir in den Rebbergen ob Heiligkreuz. Das Thermometer zeigt 16 Grad an, der Wind bläst kräftig. Trotzdem genügt das Windstopper-Gilet über dem T-Shirt, die Jacke bleibt (noch) im Rucksack, den Pulli lass ich gleich zurück im Auto. Der Weg steigt zünftig steil an, bald ist mir wohlig warm.
Der kahle Laubwald ist hier etwas Besonderes, die Bäume führen einen harten Kampf gegen Topographie und Wetter. Häufig liegen Wurzeln frei, die Bodenerosion lässt grüssen. Andere haben den Kampf gegen den Sturm verloren und liegen am Boden. Bald zweigt unser Pfad zum Tschugga vom markierten Wanderweg ab. Keine Markierungen mehr, aber ein tipptopper Weg. Ich unterhalte mich angeregt mit meinem neuen Bergfreund, der unter seinem Pseudonym Bergamotte grossartige Berichte auf hikr.org verfasst. Wir sind das zweite Mal zusammen unterwegs und harmonieren gut. So fliegt die Zeit vorbei, eine knappe Stunde nach Abmarsch erreichen wir die Alp Vorderspina, deren Wiesen sich oberhalb einer eindrücklichen Felswand ausbreiten und die von unten kaum einsehbar ist.
Im offenen Gelände lässt der Föhn seine Muskeln spielen. Ich muss den Klettverschluss meiner Mütze fest anziehen, um ihr einen Flug ins Tal zu ersparen. Vor der Alphütte begrüsst uns Adam und meint, Marie würde uns gerne einen Kaffee machen. Bald sitzen wir im Innern vor der dampfenden Brühe und beugen uns über das gepflegte Hüttenbuch, das bis 1981 zurückgeht. Adam erzählt derweilen, dass sie gerade erst gestern hochgekommen seien. Die Schafe müssten nun das im Sommer geschnittene Heu fressen und gleichzeitig die Alp bemisten. Das sei wohl nachhaltiger, als das Heu mit dem kleinen Holzbähnli ins Tal zu transportieren. Wir hören dem pensionierten Bauern gerne zu.
Nach der angenehmen Pause steigen wir über das offene Gelände weiter hoch. Bei Punkt 1452 erreichen wir die Westkante der Wand und damit das Ende der Alp. Ich freue mich über den freigewordenen Blick auf die Churfirsten und den Walensee. Das Wetter mag nicht perfekt sein, aber die Sicht ist es!
Jetzt müssen wir uns aber auf den Weg konzentrieren. Es ist immer noch ein Pfad sichtbar, aber bald sind es nur noch Wegspuren. Ab der 1500-Höhenkurve ist Orientierungsgeschick gefragt. Einige verblasste rote Markierungen helfen, das alleine reicht aber nicht, um Route zu finden. Generell gilt: Rechts halten und steigen. Irgendwann kommt das nächste, langgezogene Felsband. Diesem entlang steigen wir über Grasland hoch zur einer trichtenartigen Rinne, wo eine gute Wegspur auf die nächste Geländestufe führt. Oben angekommen (roter Pfeil) traversieren wir auf Pfadspuren erneut nach rechts bis zu einer Geröllrinne, hinter der die felsige Gipfelflanke des Tschugga sichtbar wird. Dem Fuss der Felsbänder folgen wir erneut nach Westen, bis 20 Meter vor der Gratkante ein roter Schriftzug „Berg Heil!“ auftaucht (wer es präziser wissen will: Gabriel hat die Route hier im Detail beschrieben und bebildert).
Jetzt brauchen wir die Hände, mit vier, fünf Klimmzügen wird eine erste Felsstufe überwunden (II). Dann folgen wir unserer Nasenspitze gerade hinauf über steiles Gras, bis wir die Felsen des Gipfelaufbaus erreichen. Der Wind pfeifft uns jetzt gehörig um die Ohren. Wir nehmen beherzt das herunterhängende Stahlseil in die Hände und ziehen uns rund 30 Meter über die Felsen hoch (ohne Seil ist das stellenweise eine III). Jetzt fehlt nur noch eine kurze, etwas ausgesetzte Querung (auch seilgesichert) und ein letzter Aufstieg über Steilgras, dann stehen wir auf dem Gipfel. Wow – das war cool!
„Stehen“ ist zwar das falsche Wort. Wir krallen uns regelrecht mit den Füssen am Boden fest, der Föhn erreicht hier oben nahezu Orkanstärke. Die hungrig gewordenen Mägen müssen warten, an eine Rast hier ist nicht zu denken. Also – schnell ein paar Fotos von der herrlichen Sicht auf Walensee, Alviergruppe und Alpenkette mit Föhnmauern schiessen – und dann gleich über die Nordflanke abtauchen. Wenig später ist der Spuk vorbei. Wir wandern gemütlich über Wiesen und Restschneefelder zur eingewinterten Palfrieshütte, wo wir uns gemütlich auf der verlassenen Terrasse einrichten und die Sandwiches den Weg in unsere Bäuche finden.
Die frischrenovierte Palfriesbahn fährt natürlich auch nicht mehr, aber der lange Abstieg über die Hinterspina-Route ist gleichermassen spannend wie abwechslungsreich. Einerseits erlaubt er uns einen interessanten Seitenblick auf die Tschugga-Südwand, andererseits ist dieser felsdurchsetzte Steilwald wirklich eine Augenweide und der Pfad perfekt angelegt. Auf der Hinterspina-Alp lockt zwar die jetonbetriebene, fensterlose Minibahn mit einem Abfahrtssignal, doch wir lassen uns nicht von der Vollendung der Runde abbringen und schauen dem Kistchen auf seiner einsamen Fahrt ins Tal nach. Und wir werden dafür belohnt: Unterhalb der Balmenwand hat sich soviel Laub angesammelt, dass wir zeitweise bis über den Knien in die staubtrockene Blätter einsinken. Selten hat mir ein Waldabstieg mehr Spass gemacht!
Danke Väterchen Föhn – das war ein schöner Tag!
Tourdatum: 24. November 2016