Was gibt es Schöneres, als bei einem feinen Frühstück das Tagesziel zu beobachten und dann gleich loslaufen zu können? Heute führt mich mein zweiter Alp Flix-Tag vom Hotel über Alpinwanderwege zur Tschima da Flix (3316), die gemeinsam mit Piz d’Err (3378), Piz Calderas (3397) und Piz d’Agnel (3204) das Val Bever abschliesst und über eine Gruppe kleiner Gletscher wacht.
Aus welchen Gründen auch immer scheint der Tourismusverantwortliche der Gemeinde Sur keine Wanderer auf die Bergkette über der Alp Flix entsenden zu wollen. Weder ein Wanderschild noch eine Markierung weisen den Weg zu diesen lohnenswerten, einfach zu begehenden Gipfel (max. T4). Wegspuren und Steinmännli gibt es hingegen in Hülle und Fülle, die Routenfindung ist nicht schwer. Die Alpinwanderer helfen sich eben selbst.
Vom Hotel Piz Platta (noch vor der Brücke) führt die Route über die Wiese entlang des Bachs (Ava da las Tigias) nach oben. Ich überschreite eine geländerlose Brücke und folge dann den Spuren, die über das grasig-steinige Gelände nach oben führen. Solange man nicht weiter als 20m rechts vom Bach abweicht, finden sich immer wieder Spuren. Weiter oben entwickeln sich diese zu einem richtigen Pfad, der zunehmend steiler wird.
Auf rund 2400m erreiche ich die Plang Lung, eine Hochebene, die wohl auf einen verlandeten See zurückgeht. Jetzt hört der Pfad auf. Ich halte rechts und sehe dann vor mir einen anderen Solowanderer, der konsequent in die Richtung einer Erhöhung (Pt. 2573) läuft, die gemäss meiner Wegbeschreibung den Übergang zu zwei kleinen Seelein markiert, die ich passieren muss. Davor wird ein grosses Blockfeld westlich umgangen.
Das erste Seeli ist ein wahres Kleinod. Es wird reichlich von diesen hübschen Baumwoll-Pflänzlein eingerahmt, deren Namen ich mir nie merken kann. Steinmännli zeigen mir den Weg über eine weitere Ebene zum zweiten Seeli (Pt. 2540), das wie ein grünes Auge in der Steinwildnis liegt. Von hier aus geht es bald schuttig steil (richtig steil!) nach oben über einen nun wieder gut sichtbaren Pfad. Er führt zu einer Scharte (Pt. 2741) auf dem Südwestgrat des Piz d’Agnel. Dort hole ich Röbi ein, der eine kurze Pause einlegt, und wir beginnen einen Schwatz. Ein cooler Typ, wir mögen uns gleich. Dann ertappen wir uns lachend dabei, wie er sich durch meine Verfolgung genau so sicher fühlte in der Routenwahl wie ich mich durch sein Vorausgehen…
Wir gehen gemeinsam weiter. Der Grat erfordert 2-3 mal den Einsatz der Hände, die Route ist aber gut auffindbar und nie schwierig. Ein steiler Aufschwung wird durch die Ostflanke umgangen, kurz danach trennen sich die Pfade zum Gipfel des Piz d‘ Agnel und der Fuorcla da Flix. Diese wird über die Schuttflanke schnell erreicht.
Nun wird die Sicht ins wilde Val Bever frei. Der Blick auf den verkümmerten Agnelgletscher erschreckt mich, in meiner (alten) Erinnerung reichte er noch fast bis zum Pass…
Eine Gruppe junger Steinböcke lenkt mich bald von dieser etwas tristen „Realität 2016“ ab. Ich rede mir ein, dass der Gletscherschwund auch Vorteile haben muss (ich weiss zwar nicht welche) und mache mich dann an die Erklimmung des gerölligen Grats zur Tschima da Flix. Das kostet zwar ein paar Schweisstropfen, bereitet aber sonst keine Schwierigkeiten. So bleibt viel Zeit, um die spannende Rundsicht zu geniessen. Der Gipfel des eindrücklichen Piz d’Agnel hinter mir wird immer kleiner, dahinter tauchen der Piz Güglia und die Bernina Gruppe auf. Im Westen reicht die Sicht bis zum Gotthardmassiv.
Der Gipfel bietet viel Platz, ist aber leider auch ziemlich heftig der kalten Bise ausgesetzt. Meine Softgeljacke leistet beste Dienste, und so lasse ich mir den ausführlichen Gipfelgenuss nicht verderben. Besondere Freude macht der Tiefblick auf den Calderasgletscher, der auch noch einiges fitter aussieht als der Agnelgletscher. Ich nehme mir vor, von hier aus einmal zum Piz Calderas zu queren und dann zur Jenatschhütte abzusteigen. Aber für heute ist mein Steig-Programm abgeschlossen, auch den nahen Piz Picuogl mit seiner Schnappszahl-Höhe 3333m werde ich auslassen. Ich spüre die Beinverletzungen der Vorwoche noch mehr als mir lieb ist, und bin deshalb schon froh, überhaupt so gut unterwegs zu sein.
Ich esse meine letzten getrockneten Aprikosen, dann verabschiede ich mich von Röbi. Gemütlich mache ich mich an den Abstieg über die gleiche Route. Vergnügt schaue ich dem Treiben einiger Wolken zu, die den Grat erfolglos zu verhüllen versuchen. Meine Gedanken sind schon beim Abschluss meiner zweitägigen Alp-Flix-Retraite. Auf der Terrasse bei Renske und Werner werde ich es mir nochmals gut gehen lassen. Das treibt mir schon jetzt ein Schmunzeln der Vorfreude ins Gesicht.
Tourdatum: 9. September 2016
Kartenausschnitt Tschima-da-flix (pdf)
Wie immer ein toller Bericht! Danke fürs Mitnehmen!
Das ist ein schönes Kompliment Uwe! Danke.
Vielen Dank für den Einblick und die Inspiration – sieht superschön aus da oben. Ich freu mich sehr, dass Du da gewissermassen Pfade legst ab Flix!