Das Hintere Lauterbrunnental, der Obersteinberg und der Oberhornsee behergen für meine Familie viel Nostalgie und sind die Initiatoren meiner Wanderlust. Vor 50 Jahren durfte ich das erste Mal mit. Die kleinen Füsse in den schweren Schuhen trugen den Knirps in einem Kraftakt zum Bijou am Fuss des Breithorns. Heute breche ich – viel leichteren Fusses – wieder einmal auf in dieses Bergparadies, das mir so viel bedeutet.
Garagist Gärtsch in seinem öligen Overall darf diesmal zuhause bleiben. In der Regel bringt sein Wandertaxi uns nach Trachsellauenen, das seit rund 30 Jahren von einem Fahrsträsschen erschlossen wird. Das spart 300 Höhenmeter und etwas Zeit. Aber heute beginne ich bewusst zuunterst in Stechelberg, am Anfang des Hinteren Lauterbrunnentals – so wie im Sommer 1970 mit Hans, als ich erstmals mitkommen durfte.
Neben mir rauscht die weisse Lütschine, gut gefüllt mit Gletscherwasser. Ich kenne jeden Stein, jeden Baum, sie fühlen sich heimisch an. Ich atme tief durch, grinse breit und fühle mich wunderbar. Robin erzählte mir einst, dass Tolkien sich hier für seine „Herr der Ringe“-Trilogie hat inspirieren lassen. Er hätte keinen besseren Ort finden können.
Rasch erreiche ich die Ställe von Sichellauenen, dann die einfache Herberge von Trachsellauenen. Ich beobachte etwas mitleidig die blanken Gletscher hoch über mir an den Flanken von Äbnefluh, Gross- und Mittaghorn und wünsche ihnen, dass die erste Septemberkälte sie wieder gut einpacken wird.
Der Weg taucht nun in ein Bergsturzgebiet ein, ein kurzer, steiler Aufstieg führt auf die nächste Talstufe. Zwischen den riesigen Brocken riecht es nach Moos, der Farn zwischen den felsumwurzelnden Bäumen steht hoch. Wenig später erreiche ich den Schirboden, der den Blick auf das Breithorn und den imposanten Schmadribachfall freigibt. Beim Überschreiten des Schluchbachs denke ich – wie immer – daran zurück, wie ich mich dazumal vollbekleidet vor aufdringlichen Fliegen schützte, während meine Schwester sich entspannt von der Sonne bräunen liess (siehe Foto unten).
Dann passiere ich die altbekannte, schöne Berner Oberländer Scheune, verlasse die Route zum Oberhornsee und überquere den wilden Bach. Es ist ein kleiner Umweg, den ich hier einbaue, aber der lohnt sich doppelt. So steige ich nämlich zügig zu einem versteckten Tälchen hoch, das zum Herrschaftsgebiet der Schmadribachfälle gehört. Dieser spritzende Wasserlauf und sein kleines Flussdelta gehören für mich zum Eindrücklichsten, was das Berner Oberland zu bieten hat. Eine perfekte Komposition, die kein Landschaftsarchitekt besser entwerfen könnte.
Ich halte kurz inne um etwas zu trinken, zu lauschen und zu staunen. Wie mich dieser einsame Ort doch jedesmal wieder begeistert! Der schmale Pfad führt dann weiter zwischen Büschen und Bäume und wieder ein paar Dutzend Höhenmeter hinunter zur Lütschine. Diese hat sich an dieser Stelle eine kaum zwei Meter breite, unendlich tiefe Schlucht durch den Kalkstein gefressen. Das Wasser unter dem Brücklein tost, es schaudert mich beim Gedanken, was passieren würde, wenn man in diese Waschmaschine geraten würde…
Meine Route folgt nun dem Bachlauf nach oben. Zunächst ist es flach und bietet Platz für eine überschaubare Weide, eine neue Laune der Natur. Zwei Ställe beherbergen denn auch etwas Vieh. Am Ende der Ebene stürzt Wasser über eine steile Talstufe hinunter und hat sich auch hier tief in die Felsen eingegraben. Grosses Kino, ein einzigartiges Schauspiel.
Es folgt etwas Fleissarbeit, denn die nächste Talstufe muss im treppenartigen Zickzack erklommen werden. Doch bald stehe ich oben, die Baumgrenze ist erreicht und es öffnet sich die Gletscher- und Felsenwelt des Breit- und des Tschingelhorns. Vor ihnen liegt ein begraster Rücken und eine Moräne, die müssen jetzt noch überwunden werden. Das geht aber leicht in voller Vorfreude auf das Kommende.
So zähle ich bald die letzten Schritte, als ich um die Blöcke kurz vor dem Tagesziel drehe. Mein Gesicht hellt sich auf und ich stehe strahlend am Ufer des geliebten Oberhornsees, der so kunstvoll in die steinige Gletscherlandschaft eingebettet ist.
Ich war sieben Jahre nicht mehr hier – und meine einmal mehr, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben. Das türkisblaue, von Gras und Felsen umgebene Wasser, die blanken Gletscher und das Ende August jeweils fast schneefreie Tschingelhorn, das eigenwillige, kantige Lauterbrunner Wetterhorn mit der vorgelagerten Kanzel, das mächtige Breithorn. Und im Rücken die Jungfrau, die ebenfalls immer schöne Erinnerungen weckt.
Fast eine Stunde gebe ich mich dem Genuss der grossartigen Kulisse hin und schwelge gleichzeitig in den Erinnerungen früherer Besuche. Spontan whatsapple ich Hans ein Foto. Er antwortet: „paradise lost“ – seine 87 Lenzen liessen keine Besuche mehr zu. „Ich brauche es auch nicht“, versichert er mir sonntags darauf beim Kaffee, „ich muss nur die Augen schliessen, dann bin ich dort“.
In bester Stimmung zottle ich zum Obersteinberg hinunter. Die Route folgt jetzt dem Südhang, von wo aus die gegenüberliegende, wilde Talseite besonders gut betrachtet werden kann. Darum ist auch der Einkehr im ursprünglichen Berghotel ein Muss. Bei Schorle und Nusstorte erinnere ich mich daran, dass der Konsum hier oben stark begleiterabhängig war. Mit Mutter Bea gab’s jeweils ein teures, maultiertransportiertes Elmer Citro, mit Vater Hans die teegefüllte Feldflasche… aber schön war es mit beiden.
Für den Abstieg wähle ich heute die Route entlang des zweiten Berghotels (Tschingelhorn) auf demselben Höhenweg, wo langhaarige Yaks grasen. So ändern sich die Zeiten! Dann folge ich dem arg verwurzelten, schmalen Pfad nach Stechelberg hinunter. Hier folgt das obligate Bier im Garten des Restaurants, dessen Stühle 1970 wohl auch schon da standen. Bald komme ich wieder!
Tourdatum: 28. August 2020
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
öV: Bus bis Stechelberg. Bei der Garage Gärtsch kann das Wandertaxi bis Trachsellauenen bestellt werden.
Auf dem Obersteinberg, im Hotel Tschingelhorn und in Trachsellauenen kann urtümlich übernachtet werden. Ich war manche Nacht dort und kann es empfehlen.
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