Eigentlich waren wir uns nicht sicher, ob ein Nordflankenaufstieg auf einen Vorgipfel des Balmhorns auf 2700m ü M. eine gute Idee ist. Vor wenigen Tagen zog eine erste Herbst-Kaltfront über die Schweiz. Tatsächlich behindern uns der frische Schnee und der Eiswind nicht wirklich, im Gegenteil, sie sorgen für Überraschendes.
Das Gasteretal gehört zu den Geheimtipps des Berner Oberlands. Vom Bahnhof Kandersteg startend windet sich ein kleiner Wanderbus durch die engen Tunnel der Gastereschlucht („Chluse“) nach oben, lässt uns beim Waldhus aussteigen und schlängelt sich noch ein paar Kilometer weiter durch das karge Tal.
Wir stehen bald vor einer Wand, die unüberwindbar scheint, doch die Wandertafel zeigt unbeirrt „Balmhornhütte 2 Std.“, und das erst noch nur in Rot-Weiss. Der Hüttenweg entpuppt sich als kleines Meisterwerk mit vielen Treppen und geschickt angelegten Bändertraversen, nur Höhenangst ist hier fehl am Platz. Cool!
Auf der Mauer angekommen öffnet sich das Gelände zum Balmhorn und seinem Prachtsgletscher hin. Bald stehen wir vor der Hütte. Dort erwarten uns zwei netten Talbewohnerinnen, die „Hüttenschicht“ haben. Sie halten uns spontan einen Tee hin und preisen ihre Backwerke an. Bei dieser Marketingaktion wirkt wohl auch etwas Resignation mit, denn viele andere Gäste sind heute nicht zu erwarten. Wir vertrösten die Damen auf später und machen uns an den Gipfelsturm.
Und der hat es in sich: unter stetiger Begleitung des Balmhorngletschers und seinem Träger ersteigen wir den Grat. Dieser wandelt sich bald von einem Grasfeld in eine schuttige Mondlandschaft mit schöngeformten Steinblöcken. Und weil sich auf der Walliserseite die Wolken stauen, die uns einerseits den Tiefblick ins 1000m tiefergelegene Tal verwehren und gleichzeitig für eine gespenstische Stimmung sorgen, wähnen wir uns in einem surrealen Film. Ab 2600m ü. M laufen wir über eine dünne Schicht gefrorenen Schnees, der durch den starken Wind der letzten Tage skurille Formen angenommen hat.
Der Gipfelaufbau des Gasterespitz gleicht einem weissen Stoppelbart, das Gipfelkreuz einer Hommage an einen arktischen Gott. Gebannt schauen wir vom Gipfel aus dem Spiel der Wolken zu unseren Füssen zu, bis sich diese wie von Zauberhand auflösen. Der Blick wird frei auf die Walliser und Berner Viertausender und das gegenüberliegende Hockenhorn. Was für ein Naturschauspiel!
Auf dem Abstieg (gleiche Route) stehen wir noch stark unter dem Eindruck des Erlebten, erst die Kuchen der Hüttendamen bringen uns wieder zurück in die reale Welt und auf andere Gespräche.
Zurück im Talboden bestaunen wir nochmals die Wände im Rückspiegel und die rauhe Schönheit dieses Tals. Dann durchwandern wir die Chlus bis zur Talstation der Sunnbühl-Bahn – doch leider ist mein iPhone-Akku zu diesem Zeitpunkt schon leer… Wir kommen zurück!
Nachträgliche Anmerkung vom 30. August 2021: Weil die West-Ost-Transversale 2021-2022 die Durchwanderung des Gasteretals auslässt, füge ich diesen Blogbeitrag von 2014 in die Etappenreihe ein. Er schliesst die kleine Lücke gibt dieser einzigartigen Landschaft und der eindrücklichen Tour das verdiente Gewicht.
Tourdatum: 2. September 2014
Interaktiver Kartenausschnitt mit Höhenprofil und Zeitangaben
Kartenausschnitt Gasterespitz (pdf)
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