Dichtung und Wahrheit am Vorder­glärnisch 2327 m ü. M.

Diese Geschichte ist dem 1. August gewidmet. In der NZZ vom 30. Juli 2014 wird über die Feuerwerker vom Vorderglärnisch erzählt, die seit 1935 jedes Jahr das Holz für das Höhenfeuer auf den Hausberg von Glarus tragen. Eine Tafel mit der Aufschrift „Jede treit es schiitli bi“ fordere jeden Gipfelstürmer beim Beginn der Aufstiegsroute auf, einen Beitrag dazu zu leisten (http://www.nzz.ch/panorama/alltagsgeschichten/der-feuerwerker-vom-glaernisch-1.18353403). 


Das ist ja grossartig, sagt sich der Historiker in mir. Der trotzige Vorgipfel des Glärnisch stand sowieso schon lange auf meiner Wunschliste. Ich packe drei „Schiitli“ Chemineeholz in meinen Rucksack und mache mich am 1. August früh auf den Weg. Das Wetter ist soso lala, aber es sollte trocken bleiben.

Der Blick in das Tal des Aufstiegs (bei der Rückkehr mit Sonne)
Der Blick in das Tal des Aufstiegs (nach der Rückkehr nachmittags mit Sonne)

Die Tour beginnt bei der Schwammhöhe oberhalb des Klöntalersees. Die ersten Meter führen über Wiesen zum engen Taleingang. Der schmale Pfad steigt rasch an und ist anspruchsvoll. Trittsicherheit ist gefragt bei den zahlreichen Felsübergängen über schmale Bänder, aber der Weg ist mit Ketten gut gesichert. Rasch gewinnt man an Höhe und bestaunt derweilen die vielen Wasserfälle, die wie von Zauberhand geweckt aus den Flanken des Glärnisch sprudeln. Manneken Pis wäre vor Neid erblasst. Ein spannendes Teilstück folgt dem anderen, die Szenerie wechselt ständig, ein grosses Vergnügen!

Einer der Wasserfälle, die aus dem Nichts kommen
Einer der Wasserfälle, die aus dem Nichts kommen
Wasser und nochmals Wasser
Es ist schon ziemlich steil hier…

Nach zwei Dritteln des Weges ist eine längere, kettengesicherte Passage zu überwinden. Da mir ein Pärchen entgegenkommt, weiche ich in die Felsen aus und will sie kraxelnd umgehen. Das ist etwas leichtsinnig, wie sich bald herausstellt. Der Fels ist viel zu glatt, und ich muss vorsichtig wieder zurückklettern. Den kleinen Dämpfer stecke ich schnell weg. Etwas mehr Sorgen bereitet mir die Erklärung der beiden Berggänger, warum sie umgekehrt seien: Sie meinten das Donnern von Gewittern zu hören. Ich konsultiere mein Wetter-App und entdecke beim besten Willen keine Gewitterzellen, also steige ich weiter. Schon cool, so eine Wetterstation in der Hosentasche.

Blicken zum Guppengrat und Vrenelisgärtli
Blick von den Glärnischplanggen zum Guppengrat (Target 2015!) und Vrenelisgärtli

Bald erreiche ich die Weite der Glärnischplanggen, die letzte Geländekammer vor dem Gipfel. Es wird nochmals richtig steil, die Glarner halten nicht viel von kräftesparenden Spitzkehren. Nach knapp zwei Stunden schwerer, aber kurzweiliger Arbeit ist das Ding bewältigt – ich stehe auf der Kanzel oberhalb von Glarus.

Auf dem Gipfel liegt tatsächlich ein schönes Häuflein Holz. Ehrfürchtig lege ich meinen Obulus dazu, dann packe ich mein Sandwich aus. Ich geniesse die senkrechten Tiefblicke in den Zigerschlitz und studiere den Guppengrat am Vrenelisgärtli, ein Ziel für 2015. Auch der Himmel klärt auf, von Minute zu Minute bessert sich die Sicht. Zu meiner grossen Freude beginnt die Schneekappe des soeben noch wolkenbedeckten Tödis in der Sonne zu leuchten.

Der Tödi hat sich von den Wolken befreit
Der Tödi hat sich von den Wolken befreit
Fast 2000 Meter weiter unten liegt Glarus
Fast 2000 Meter weiter unten liegt Glarus, weit hinten der Säntis

Plötzlich ist es mit der Ruhe vorbei. Ein Helikopter mit Anhängsel knattert vom Tal hoch und visiert die Spitze des Vorderglärnisch an. Ich verziehe mich rasch vom Gipfel und klemme meinen Rucksack fest, damit der nicht auf den Landsgemeindeplatz in Glarus hinunter fliegt. Der Helikoper klinkt – keine 10 Meter neben mir – einen riesigen Sack mit Holz und Brennmittel aus. Dann verschwindet er so schnell, wie er gekommen ist.

Ein Helikopter knattert herbei...
Ein Helikopter knattert herbei…
....klinkt seine Ladung aus...
….klinkt seine Ladung aus…
...und relativiert die Leistung der Berggänger
…und relativiert die Leistung der Berggänger (links)

Damit ist mein Zürcher Stolz auf die Glarner wieder auf dem Boden der Realität angekommen. Beim Abstieg erkläre ich mir den Vorgang mit dem nassen Juliwetter, dem abnehmenden Willen der Berggänger, den Rucksack auf dieser schweisstreibenden Tour weiter zu erschweren, oder dem Druck der Bevölkerung, ein möglichst grosses Feuer sehen zu wollen. Die rührige Story in der NZZ war einfach ein bisschen zu schön um wahr zu sein. Vielleicht hätte die Autorin etwas bescheidener sein sollen, schmunzle ich. Etwa so, wie wenn wir unseren Kindern erzählen, dass die Geschichte vom Apfelschuss nicht wahr sein muss, um identitätsstiftend zu sein. Ich habe ihr abends ein Email geschrieben, leider kam nie eine Antwort.

However, der Tag übertrifft alle meine Erwartungen. Das Wetter wird immer besser, im Tal angekommen scheint die Sonne mit voller Kraft. Zufrieden kehre ich in das Restaurant auf der Schwammhöhe ein und geniesse mein Bier und den deftigen Wurstkäsesalat im schönen Anschein des türkisblauen Klöntalersees.

Geniessen im Garten des Restaurants Schwammhöchi
Geniessen im Garten des Restaurants Schwammhöchi

Den Abend des 1. August feiern wir im Garten von Freunden in Meilen am Zürichsee. Wehmütig und dankbar schaue ich über das Wasser zu den Glarner Bergen, wo sich zehn Stunden später doch noch ein Gewitter entlädt.

Tourdatum: 1. August 2014

Kartenausschnitt Vorderglärnisch (pdf)

Nachtrag: Am nächsten Tag lese ich online, dass einer der Feuerwerker am Vorderglärnisch am Abend von einem Blitzschlag getroffen wurde. Mit viel Glück hat er überlebt. Sonst hätte ich diese Geschichte aus Pietätsgründen anders geschrieben.

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